In grauer Vorzeit schon, kamen Menschen aus verschiedenen Himmelsrichtungen zum Bleiben an in diesen Tälern, die ihnen trotz der Mühsal beim Roden der Wälder und der Bearbeitung des kargen Bodens, geliebte Heimat wurde. Im rauen Klima waren sie im Schutz der Tannen und Fichten gut aufgehoben. „Eure Sangesfreude und die Begabung, ohne Noten ein Musikinstrument zum Klingen zu bringen, war keinem von Euch der Rede wert“, lächelte ich in mich hinein. Ich wusste, es war ihnen Entspannung nach harter Arbeit und so konnte man regelmäßig in der Stille der beginnenden Nacht aus den Talsenken heraus, die Hänge hinauf, das Echo der anrührenden Lieder hören, die von der Herkunft der Siedler und auch vom Heimweh der Vorfahren erzählten.
„Du kanntest diese Lieder alle auswendig“, wandte ich mich an Mora. Ich wusste um ihren Hang, bereits in Kindheitstagen die Lieder mit gekonnter Gestik zu unterstreichen.
„Der harte Alltag ließ eine diesbezügliche Entwicklung nur bis zum Ansatz zu“, bemerkte ich gedankenverloren.
Es wurde nun Zeit, an ihren Anfang im Woid zu erinnern, aber es fiel mir enorm schwer und so blieb das Album erst nochmal geschlossen. Ich stand stattdessen auf und strebte in Richtung Küche um nach Kaffee zu suchen. Ihr abgegriffener Becher stand da noch, sauber auf der Spülablage. Die Kaffeemaschine und der noch vorhandene Kaffee ließen bald das aromatische schwarze Gebräu entstehen, das mir Wärme gab um den unterbrochenen Gedankenfluss wieder aufnehmen zu können.
„Wann hast Du davon erstmals erfahren und dann, wie bist Du in all den Jahren damit umgegangen?“, fragte ich zwischen zwei Schlückchen und meinte damit die Tage ihrer Geburt. Ich spürte ihn förmlich, den kalten Oktobertag 1926, an dem sie in dem Bauernhaus in der Dorfsenke, unmittelbar an der harten Straßenkante der durch das Tal ziehenden Landstraße, zur Welt kam.
„Du warst unwillkommen, weil Bankert der ledigen Tochter des Hauses und eines mittellosen, wenn auch selbstbewussten Sohnes des Viehhändlers im Dorf“, bemerkte ich für mich und starrte auf das Foto im jetzt aufgeschlagenen Album, das ein behäbiges Bauernhaus zeigte. Ich hob den Kopf und suchte in meinen mit Last gefüllten Erinnerungen nach dem Bild von Moras Großmutter, jener Großmutter, die im Haus in der Dorfsenke die Fäden in der Hand hielt und von der es kein Foto gab. Also grub ich es aus mir heraus, das Bild jener Urgroßmutter. Ich fand es wieder. Vor meinem inneren Auge sah ich eine hagere, mittelgroße Frau, aus dem Böhmischen stammend, mit tiefliegenden fast schwarzen und wachen Augen, die ihr Gesicht mehr beherrschten, als das dauernd getragene dunkle Kopftuch.
„Heute halte ich Deinem intensiv forschendem Blick stand“, murmelte ich, während ich ihn bei mir ausruhen ließ. Gleichzeitig verdrängte ich erfolglos das anschleichende schlechte Gewissen, das mir vorhielt, wie häufig meine Cousine und ich uns in Kindheitstagen über die eingedeutschten Laute und die etwas singende Tonlage in ihrer Aussprache lustig machten. Vor allem bei ihren Schelten über den jeweils verursachten braunen Abdruck unseres Balles, den wir zu gerne an ihre weiße Hausmauer donnerten. Erneut betrachtete ich das Bauernhaus auf dem Foto und ließ es auf mich wirken. Ich meinte, noch auf dem Bild den grellweißen Rauputz der Außenwände zu sehen, der sich fortsetzte bis hinein zu den Innenwänden jenes Zimmers, einer Nebenkammer, die der Ort von Moras Geburt geworden war. Aus Moras Erzählungen wusste ich, dass diese ungeheizte Kammer nichts enthalten hatte, als zwei aneinander geschobene und aus Fichtenholz gefertigte Bettgestelle mit prall gefüllten Daunenbetten, die Moras Mutter als Teil der Aussteuer zugedacht waren.
Später erzählte man sich noch, dass Mora nach dem ersten Schrei, den sie in die Kammer gestoßen hatte, von der Großmutter in ein aus naturbelassenem Leinen gefertigtes Wickelkissen gesteckt und so in die Ritze zwischen den Betten platziert worden war. Ich meinte die tägliche Stille von damals um Mora herum körperlich zu spüren und wandte mich nochmal an meine Urgroßmutter: „Du hattest zusammen mit Deinem Mann, meinem Urgroßvater, das Bauernhaus von einem Bauern ohne Erben gegen eine günstige sogenannte Austrags-Leistung erworben und durchgehend Wert auf das strahlende Weiß gelegt. „ Ein weißer Fleck, einem unbeschriebenem Blatt Papier ähnlich?“, grübelte ich. „Aber auf welchem Weg bist Du in die Dorfsenke gekommen?“. Darüber hatte man weder zu ihren Lebzeiten noch danach geredet und wenn, dann kam nur Spärliches daher. Nur so viel, dass sie aus dem Böhmischen gekommen war.
„Auf dem Weg der Säumer, über den Goldenen Steig“, setzte ich feststellend nach, entfernte mich für ein paar Momente vom Album und blieb auf dem Säumer-Weg.
Auf diesem jahrhundertealten Steig, einem Handels- und Schmugglerweg durch das Tal, wurde auf Pferden, Ochsen, Maultieren und nicht selten auch auf dem Rücken der Menschen, Salz nach Böhmen und Glas in entgegengesetzter Richtung nach Passau transportiert. Mein Blick streifte kurz über das Album und haftete am kleinen Portrait-Foto fest, das Moras Vater in Uniform zeigte. „Dahin will ich noch nicht“, entfuhr es mir. Jedoch vermochte ich nicht, mich ganz und gar dem schwarzweißen Foto zu entziehen. Ich sah dahinter den bis ins Alter schlank gebliebenen Großvater mit dünnem Haarwuchs, der, ehe er grau geworden war, als rotblond bezeichnet werden konnte. Seine etwas zu groß geratene Nase zwischen lebhaften, schmalen, fast listigen hellblauen Augen im von Sommersprossen übersäten ovalen Gesicht, gab ihm Würde.
Ich hatte immer Respekt und Achtung vor ihm, aber keinen Zugang zu ihm gefunden.
„Du bist schon hier im Tal geboren, wie nachweislich schon Dein Vater und Großvater und Euren Namen habt Ihr wie eine kostbare Außergewöhnlichkeit vor Euch hergetragen und auch in dieser Art so weitergegeben, ohne dass jemals jemand den Grund hierfür hinterfragt hätte. Aber auf welchem Weg die Deinigen, die Familie W., anno dazumal ins Tal gekommen war, darüber gab es nur vielschichtiges Achselzucken.“ Spärliche Erzählungen hierüber gaben lediglich preis, dass seine Mutter auch aus dem Böhmischen stammte.
Meine Recherchen hatten mir jedoch schon Antwort gegeben. Damit pilgerte ich gedankenverloren in die Passauer Altstadt zur Luvago-Gasse, Nahe am Domplatz.
Dort befindet sich das Archiv des Bistums Passau, das Einblicke in die Ahnenforschung zulässt. „Aus Italien und Böhmen, so die alten Aufzeichnungen, waren sie gekommen, die Deinen. Der Goldene Steig war demnach auch einer ihrer Wege und nicht nur von Böhmen her, sondern auch von Passau her“, resümierte ich. Stimmlos wurde ich mitgenommen zu althergebrachtem und historischem Wissen: „In der Altstadt von Passau gab es neben der katholischen Kirchen bis 1427gar noch eine Synagoge, die dann abbrannte. Bis1478 gab es Juden nur mehr in der Ilz-Stadt, dann jedoch, ab 1867, fast 100 Jahre nach der Reduzierung des bischöflichen Machtbereiches von Passau und ca. 60 Jahre nach der Säkularisation, begann eine erneute Zuwanderung von Juden.
„Ich liebe Passau, die Ausstrahlung einer deutsch-italienischen Architektur von Neugotik bis Barock und den Punkt der Verschmelzung von Ilz und Inn mit der Donau. Vor allem liebe ich den Fuß-Weg am Inn entlang, der an der Fünferl-Brücke vorbeiführt bis hin zur Landspitze und das hat seinen Grund“, ergänzte ich aus einer Vielzahl von Empfindungen und ließ nun Fantasie und Gedanken miteinander spielen. Dazu tastete ich mich behutsam hin zu den Ufern des Inns und ließ vor meinem inneren Auge die damaligen Zuwanderer, Juden und Nichtjuden aus Italien, Österreich oder aus der Schweizer Bergwelt kommend, in Grüppchen stromabwärts vorbeiziehen. Ihre Habseligkeiten auf einer Kraxe festgezurrt, die schwer auf die jeweiligen Rücken gedrückt haben musste, sah ich sie ächzend ihren Weg suchen.
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