„Wer zählt noch dazu?“
„Stefanie.“
„Ihre Kollegin, mit der Sie auf der Klassenfahrt waren?“
„Ja, genau die. Ich habe ihr am ersten Abend zu verstehen gegeben, dass nichts laufen wird. Dabei war ich sehr höflich. Sie stand mit einer Flasche und zwei Gläsern vor meiner Tür.“
„Seit wann wurden Sie von Sandy bedrängt?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber es begann vor etwa elf Monaten. Sie kam zuerst ständig nach dem Unterricht an meinen Tisch oder wartete wegen unwichtiger Fragen vor der Tür oder am Auto. Ich war stets freundlich und eines Tages kam der erste Liebesbrief. Er klemmte hinter meinem Scheibenwischer. Ich habe ihn genommen und mit ihr gesprochen. Sie war sehr einsichtig, jedenfalls dachte ich das. Ich habe sie niemals angerührt.“
„Wusste dieser Johannes davon?“
Jakob nickte.
„Manja?“
„Nein! Nicht so genau. Sie ist höllisch eifersüchtig. Ich habe ihr nichts davon gesagt, denn sie hätte verlangt, dass Sandy bestraft wird. Aber das wollte ich nicht.“
„Warum nicht?“
„Warum nicht? Na, weil das sehr peinlich für uns beide gewesen wäre. Sie hatte mir versprochen, mir nicht mehr nahezukommen.“
„Wusste sonst jemand davon?“
„Nein. Doch! Ich habe mit meiner Mutter geredet, weil ich einen Rat brauchte.“
„Gut, somit sind wir jetzt fertig. Sie müssen nur noch das Protokoll unterschreiben und dann können Sie gehen. Halten Sie sich zur Verfügung.“
„Ja, das mache ich.“
Mit hängenden Schultern verließ er den Raum und folgte Roberto nach unten, wo Manja auf den Lehrer wartete. Sie schaute an ihm vorbei und gab ihm nicht einmal die Hand.
„Ich habe dir deine Sachen gepackt, du ziehst in eine Ferienwohnung. Es ist kein Hotelzimmer frei gewesen.“
Jakob hatte nicht den Mut auf sie zuzugehen und ihr Vertrauen einzufordern. Er hatte gehofft, dass wenigstens sie ihm glauben würde, aber anscheinend ging sein ganzes Leben gerade zu Bruch.
Delia hatte sich die Adresse des Kollegen aufgeschrieben und schlug vor, ihn und Jakobs Mutter als nächste zu befragen. Roberto nickte. Delia sah in seinen Augen, was er dachte, sie spürte seine Zweifel und eine riesige Traurigkeit, die sie nicht zuordnen konnte.
Jakobs Mutter war zuhause und ließ die Kommissare eintreten. Gisela Wildmann war seit fünf Jahren Witwe. Sie schaute ängstlich drein, obwohl sie eine stattliche Frau war. Ihre grauen Haare trug sie kurz und ihre Beine steckten in engen Jeans.
„Kommen Sie schnell herein. Oh Mann, was hat mein Sohn nur gemacht? Mein Telefon läutet alle zwei Minuten und irgendwelche Leute beschimpfen mich und nennen ihn Kinderficker. Entschuldigung. Dieses Wort ist so … so … so böse. Ich habe Angst um Jakob. Hat er das wirklich getan?“
Delia legte eine Hand auf den Arm der Frau und sagte sanft: „Das wissen wir nicht. Es steht Aussage gegen Aussage. Denken Sie, er hatte ein Verhältnis mit seiner Schülerin?“
„Nein! Er war immer korrekt und wusste die professionelle Distanz sehr wohl einzuhalten. Niemals hätte er sich einer Schülerin genähert. Oder habe ich ihn falsch eingeschätzt?“
„Sie sind seine Mutter“, begann Roberto, „da will man sicher vieles nicht sehen. Gab es irgendwann mal Anzeichen, dass er vielleicht doch nicht der korrekte und distanzierte Lehrer war?“
„Nein, das sagte ich aber schon. Dieses Mädchen, ist sie tot?“
„Ja, aber wir haben bisher keinen Verdacht gegen Ihren Sohn.“
„Jetzt wird der Hund in der Pfanne verrückt. Sie denken doch nicht auch noch, dass er das Mädchen ermordet hat.“
„Woher wissen Sie, dass sie ermordet wurde?“
„Einer der Anrufer sagte, Jakob sei ein Ki … - Sie wissen schon - und ein Mörder. Bitte hören Sie nicht auf zu ermitteln! Mein Junge war das bestimmt nicht! Ich weiß gar nicht, was ich denken soll.“
Sie begleitete die Kommissare an die Tür und sah ihnen nachdenklich hinterher. Delia und Roberto machten sich auf den Weg zur Schule. Sie hatten angerufen und den Schulleiter gebeten, die Kollegen zusammenzurufen.
„Der Jakob Wildmann ist ein korrekter Lehrer. Ich mag nicht glauben, dass er das getan haben soll“, sagte der Schulleiter Hans-Fred Burghaken mit fester Stimme.
„Wer will schon so etwas glauben.“
Roberto stand schweigend am Fenster und hatte Delia das Reden überlassen. An einem Ort wie diesem kamen die Bilder seiner Vergangenheit zurück. Auch seine Schwester war zur Schule gegangen, hatte Freundinnen und die erste Liebe gespürt, aber dann hatte jemand sie getötet. Er hatte bald die Schule gewechselt, weil die unschönen Kommentare einiger Mitschüler und das Mitleid der Lehrer nicht zu ertragen gewesen waren.
„Ich habe alle in den Konferenzraum geordert. Natürlich ist Herr Wildmann nicht dabei. Ich musste ihn beurlauben, bis alles geklärt ist. Die Schüler sind schon zuhause, aber Sie können sie morgen wieder befragen. Ich kann sie ja schlecht unbeaufsichtigt lassen. Außerdem machen wir morgen eine kleine Gedenkfeier für Sandy. Gibt es Beweise für die Behauptungen, dass Herr Wildmann …?“
„Darüber dürfen wir nicht reden. Lassen Sie uns gehen.“
Als die Kommissare mit dem Schulleiter den Konferenzraum betraten, schlug ihnen eine feindselige Atmosphäre entgegen. Die Lehrerinnen und Lehrer saßen an den langen Tisch, hatten die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt, jetzt herrschte plötzlich eine undurchdringliche Stille. Delia ließ ihren Blick über die etwa vierzig Menschen schweifen und entdeckte in der linken Ecke Stefanie Küttlings mit verkniffenem Gesicht. Roberto hatte sich ans Fenster gestellt und somit waren die Aufgaben klar definiert: Er würde beobachten und Delia würde sprechen.
„Guten Tag, Kollegen, ich möchte Sie alle hier willkommen heißen, wenn auch aus einem sehr traurigen Anlass. Das sind die Kommissare Böschinger und Caranio, die die Ermittlungen zum Tod von Sandy Hickerring leiten. Frau Böschinger?“
Delia trat jetzt vor und sah ernst in die Runde.
„Wie Sie bereits wissen, wurde Sandy auf der Abschlussfahrt ermordet. Jemand hat sie erdrosselt. Das Ganze geschah in einer Nacht, in der Sandy ohne Erlaubnis das Jugendheim verlassen hatte, um Herrn Wildmann zu ärgern.“
„Sie ist sicher vor dem Schwein geflüchtet!“, rief eine ältere Kollegin, die eine Frisur hatte, als hätte ein Adler seinen Nestbau begonnen.
„Sie sind?“, fragte Delia höflich.
„Irina Dankbert, ich habe Sandy in Deutsch unterrichtet. Und ich finde, dass dieser Kollege hinter Gitter gehört. Das alles wird dem Ruf unserer Schule schaden. Habt ihr mal daran gedacht? Kinderschänder im Kollegium, das geht gar nicht.“
„Frau Dankbert, es ist nicht bewiesen, dass Ihr Kollege irgendetwas in dieser Richtung getan hat. Wir werden jetzt alle einzeln befragen und vielleicht fangen wir gleich mit Ihnen an. Wenn Sie mir bitte folgen? Wer ist denn Johannes Huhberger?“
Ein junger Mann mit einem modischen Bart und leuchtend blauen Augen meldete sich.
„Mein Kollege wird mit Ihnen sprechen. Frau Dankbert?“
„Warum muss ich denn jetzt als Erste? Nur weil die anderen zu feige sind, den Mund aufzumachen? Ist euch denn das Schicksal des Mädchens egal?“
Sie hatte sich wie eine Rachegöttin aufgebaut und ruderte mit den schwammigen Armen. Niemand sagte etwas, nur Johannes schüttelte den Kopf.
Da keiner der Kollegen sich geäußert hatte, kam Irina mit erhobenem Kopf nach vorn und folgte Delia aus dem Raum. Im Nebenzimmer, einem Chemieraum, setzten sie sich in die Schülerbänke.
„Sie mögen Herrn Wildmann nicht?“, begann Delia die Befragung.
„So junge Lehrer haben keine Ahnung vom Leben. Man muss sie überwachen, nur dann können sie lernen sich angemessen zu verhalten. Dass dieser … dieser junge Kerl sich von den Mädchen angezogen fühlt, ist keine Wunder. Er hat ja immer mit denen geredet, als wären sie Freunde. Das darf nicht sein! Distanz, sage ich, Distanz.“
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