„Sie sieht wirklich nicht sehr kindlich aus. Trotzdem ist das kein Grund, jemanden zu töten.“
In diesem Moment traf die Spurensicherung ein und übernahm die Arbeit. Nach fünf Minuten reichte ein junger Kollege Delia einen Personalausweis.
„Sandy Hickerring, sechzehn Jahre alt.“
Dann las sie die Adresse vor.
Roberto sagte: „Das ist gar nicht so weit weg, aber sie war vielleicht in dem Jugendheim. Also, lass uns mal fragen, ob sie jemanden vermissen. Wie lange ist sie schon tot?“
Der junge Mann erklärte: „Acht bis zehn Stunden plus minus. Nach der Obduktion mehr.“
„Warte noch eine Weile mit dem Transport, wir müssen erst klären, wer sie vermisst. Ob sie mit jemandem verabredet war?“
Auf Delias Frage reagierte niemand, so zuckte sie nur mit den Schultern. Die beiden Kommissare liefen zurück zum Auto und machten sich auf den Weg um den See herum zum Jugendheim.
Vor dem Haus stand eine Gruppe aufgeregter Schülerinnen und Schüler, daneben diskutierte ein Mann mit einer Frau.
„Wir müssen die Eltern informieren!“, rief die Frau in dem Moment, als Delia aus dem Auto sprang.
Sie ging zu den beiden und stellte sich und ihren Kollegen vor.
„Polizei?“, fragte der Mann erschrocken. „Was tun Sie hier?“
„Die Fragen stellen wir“, sagte Roberto streng. „Wer sind Sie?“
„Ich bin Jakob Wildmann, der Klassenlehrer dieser Truppe, und das ist meine Kollegin Stefanie Küttlings.“
„Vermissen Sie eine Schülerin?“
Der Lehrer wand sich wie ein Aal, dann nickte er.
„Sandy ist heute früh nicht zum Frühstück erschienen und wir haben sie bis jetzt gesucht. Leider ohne Erfolg. Ich wollte gerade die Eltern informieren.“
„Das können Sie lassen“, mischte sich jetzt die rothaarige Jenna, die annahm, dass der Lehrer die Polizei gerufen hatte, ein. „Wir wollten Sie ärgern, also ist Sandy abgehauen. Sie kommt abends wieder.“
„Das glaube ich kaum“, erklärte Roberto nun mit eisiger Miene.
„Warum?“, fragte Jenna und biss sich auf die Unterlippe.
Jetzt schob Delia den Lehrer und Roberto zur Seite und flüsterte: „Wir haben eine schreckliche Nachricht. Unweit von hier wurde die Leiche eines Mädchens gefunden. Können Sie uns bitte begleiten? Vielleicht ist es Ihre Schülerin.“
„Oh mein Gott, bitte nicht“, sagte Jakob ebenso leise und winkte Stefanie zu sich.
Die kam und sah in das sorgenvolle Gesicht. Die Kommissarin bat sie, sich um die restlichen Jugendlichen zu kümmern und schilderte knapp, was geschehen war.
„Lange braune Haare, schlank, hübsch, etwa sechzehn Jahre.“
Stefanie riss die Augen auf und hielt die Luft an. Tränen traten in ihre Augenwinkel.
„Frau Küttlings, bitte behalten Sie jetzt die Nerven und lassen Sie sich nichts anmerken. Wir haben Herrn Wildmann gebeten, die Tote zu identifizieren. Wenn es Sandy ist, wissen wir es in wenigen Minuten. Bis dahin beschäftigen Sie die Kinder!“
Stefanie nickte und sah den drei Leuten hinterher, die ins Auto stiegen.
Dann wandte sie sich an Jenna: „Und wir unterhalten uns jetzt mal, meine Dame.“
Die drei Mädchen standen zusammen unter einer großen Linde. Die anderen waren ins Haus gegangen.
Roberto, Delia und Jakob waren am Tatort angekommen und liefen in den kühlen Wald bis zu der Stelle, wo man ein Tuch über der Leiche ausgebreitet hatte.
Delia sagte einfühlsam: „Sie müssen jetzt stark sein. Das Mädchen wurde erdrosselt. Sagen Sie es uns gleich, wenn es sich um ihre verschwundene Schülerin handelt.“
Sie traten näher und der Kollege von der Gerichtsmedizin, der gekommen war, um die Tote abzutransportieren, schob das Tuch bis zur Brust herunter. Jakob erschrak und schlug die Hände vor das Gesicht. Dann nickte er.
„Es tut mir leid, Herr Wildmann. Bitte geben Sie mir die Telefonnummer der Eltern. Wir bringen Sie zurück ins Jugendheim. Dort müssen wir alle Schüler und die Kollegin befragen. Vielleicht kann Ihre Kollegin die anderen Eltern benachrichtigen. Kommen Sie.“
Roberto hatte nichts gesagt und überließ auch jetzt Delia das Reden. Dass dieses Mädchen so jung sterben musste, machte ihn unendlich traurig. Er konnte sich noch an die schlimme Zeit erinnern, als seine große Schwester vergewaltigt und getötet worden war. Er war damals sechs Jahre alt gewesen und sie dreizehn. Seine Eltern waren an ihrer Trauer zerbrochen, aber er hatte erst viel später das Ausmaß begriffen. Seitdem waren über dreißig Jahre vergangen, aber das tote Mädchen hatte alte Wunden aufgerissen. Niemand wusste davon, auch Delia nicht. Er hatte nicht vor, jemanden in seine Seele schauen zu lassen, darum gab er sich nach außen hart und stark.
Stefanie kam ihnen entgegen. Die anderen saßen vor dem Haus auf den Bänken oder dem Boden und schwiegen. Jakobs Gesicht sprach Bände.
„Frau Küttlings, Ihr Kollege hat die Tote eindeutig als Sandy Hickerring identifiziert. Sie hatte außerdem ihren Ausweis mit dabei. Sind das alle Schüler?“
Entsetzt nickte sie und begann zu weinen. Die Schüler blickten sorgenvoll auf die vier Erwachsenen, die jetzt zu ihnen traten.
Delia setzte sich zu ihnen und erklärte leise: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mitschülerin und Freundin Sandy heute Nacht Opfer eines Verbrechens geworden ist. Sie ist tot, es tut mir sehr leid.“
Nun brachen alle Mädchen in Tränen aus und nahmen sich gegenseitig in den Arm. Die Jungs sahen auf ihre Schuhe oder malten im Sand, um nicht zu weinen. In diesem Alter musste man Härte zeigen. Heulen durften nur die Mädchen.
„Wir werden jetzt jeden einzeln befragen. Frau Küttlings, bitte rufen Sie alle Eltern an und bitten Sie sie her. Es ist besser, wenn die Kinder nach Hause fahren. Da es ja nicht so weit weg ist, werden wir auch in der Stadt die Ermittlungen leiten.“
Die Lehrerin nickte und ging ins Haus, um zu telefonieren, als ein Mann in Jeans und weißem Hemd auf die Gruppe zukam. Er stellte sich als der Leiter des Jugendheimes vor. Bertolt Krahm war einundsechzig Jahre alt und machte einen auf jung, war Delia aber von Anfang an unsympathisch.
„Was will denn die Polizei hier? Hat wieder mal einer geklaut? Die Stadtkinder sind heutzutage nicht mehr erzogen und sie haben keinerlei Respekt. Ich habe es geahnt.“
Roberto wollte antworten, aber Delia kam ihm zuvor: „Ich kann Ihnen versichern, dass nichts gestohlen wurde. Wir haben einen Mord zu untersuchen.“
„Das ist ja noch schlimmer!“, rief der Leiter des Hauses. „Jetzt werden die Leute über unser Haus herziehen und alles schlechtmachen, weil sie denken, dass man hier ermordet wird. Das haben die ja super hingekriegt.“
„Wie wäre es denn mal mit ein bisschen Mitgefühl und Anteilnahme?“, fragte Roberto jetzt und sah aus, als wolle er den Mann direkt anspringen.
Seine dunklen Augen glühten, als er Delia zunickte und den Lehrer beiseite nahm. Er hatte das Gefühl wegzumüssen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.
„So ein Wichser“, murmelte er und Jakob nickte. „Wie kann solch ein Typ dieses Haus leiten? Der hasst doch Kinder und Jugendliche.“
„Das habe ich eben auch gedacht“, sagte der Lehrer und setzte sich etwas abseits auf eine Bank im Schatten.
Roberto blieb stehen und stellte einen Fuß auf die Sitzfläche.
„Hat es denn irgendwelche Probleme dieser Art gegeben? Wurde etwas beschädigt oder gestohlen?“
„Nein, bis jetzt war alles super ausgeglichen und entspannt.“
„Warum sind Sie nicht weiter verreist? Die Kids heute wollen doch ihre Abschlussfahrt nicht in die nächste Umgebung machen?“
„Sie waren fast alle dafür, außer Sandy und die drei Mädchen aus der Clique, aber am Ende haben alle zugestimmt, weil es günstig und gut ist. Wir haben hier bisher viel Spaß gehabt.“
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