Also, sollten sich die Kollegen im Hauptquartier damit auseinandersetzen. Wofür hatten wir schließlich eines der teuersten Labore der Welt für diese Fälle! Immerhin arbeiteten im Hauptquartier des FBI mehr Kriminaltechniker, die einem jede Menge über Chemie, Physik, Biologie, Genetik, Psychologie und das weite Feld der EDV erzählen konnten, als Agenten, die die eigentliche, ursprüngliche, Polizeiarbeit leisteten, indem sie im Land unterwegs waren.
»Ich nehme an, Sie haben das übliche Prozedere noch nicht durchgeführt. Fingerabdrücke, DNS-Analyse, Schriftbild ...«
»Nein, das habe ich noch nicht veranlasst. Als ich heute Morgen hörte, dass Sie kommen würden, habe ich extra auf Sie gewartet. Nur das Tatwerkzeug, das Messer, habe ich per Eilboten zu Ihrer Dienststelle bringen lassen. Es sollte sofort ins Labor. Offenbar trauen sie unserem nicht.«
Wieder war ein leicht ironischer und diesmal auch missbilligender Unterton in seiner Stimme, doch ich ging nicht darauf ein, sondern erklärte ihm: »Unsere kriminaltechnische Abteilung findet alles! Selbst wenn der Täter nur ein Atom zurückgelassen hat ...«
»Hmm«, brummte er. »Auch unsere Jungs verstehen etwas von ihrem Handwerk. Und deren Geräte sind nicht aus der Steinzeit.«
»Ich will Ihr Labor nicht in Misskredit bringen, Captain. Aber unsere Techniker arbeiten in einem der besten und teuersten Labore der Welt. Denen stehen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung, glauben Sie mir. Die werden schon etwas finden, verlassen Sie sich drauf! Vielleicht nicht heute und auch nicht morgen, aber sie werden etwas finden.«
»Davon gehe ich auch aus.« Jetzt klang er fast erleichtert. Woher dieser plötzliche Stimmungsumschwung? War er vielleicht froh, diesen unangenehmen Fall abgeben zu können? Ich sah mir den Zettel noch einmal an. »Wie konnte es anders sein«, murmelte ich dann.
»Wie bitte?«
»Ach, es wäre ja auch zu schön gewesen. Immerhin hätte er doch auf den Zettel einen Hinweis schreiben können, der uns direkt zum Täter führt.« Ich lachte ein freudloses Lachen.
»Na, dann schauen Sie sich doch den zweiten und dritten Zettel einmal an!« Die Spur eines Triumphes lag in den Augen des Captains, doch sie verschwand schnell wieder.
Ich legte den ersten Zettel wieder sorgfältig auf den Tisch und angelte mit der Pinzette nach dem nächsten.
»Das ist der zweite, auch er mit Zahlen und Buchstaben versehen. Meiner Meinung nach dürfte es sich um Abfahrtszeiten von Zügen handeln. Und der dritte enthält zur Abwechslung Wörter.«
Ich musterte den zweiten kurz, wurde aber auf den ersten Blick aus dem Inhalt ebenso wenig schlau wie aus dem ersten. Allerdings stimmte ich dem Captain zu, dass es sich um irgendwelche Abfahrts- und Ankunftszeiten handeln durfte. Das sollte einigermaßen einfach herauszufinden sein.
Ich legte ihn neben den ersten. Dann angelte ich mir den dritten. Und in der Tat. Hier standen endlich einmal Wörter, mit denen man sofort etwas anfangen konnte. Immerhin ein Name und ein paar Begriffe!
»... phie, vielleicht Sophie, ein Name?« , überlegte ich. »Rudolf Steiner, keine Vorstellung, ein weiterer Name; Goetheanum ..., Goethe - der deutsche Dichter? Dornach, Schweiz, Europa, neutrales Land, in Genf Sitz der UN ...«
»Den Namen haben wir bereits durch den Computer gejagt. Rudolf Steiner gilt als der Begründer der Anthroposophie. Das dürfte also das erste Wort erklären. Er wurde im neunzehnten Jahrhundert in Europa geboren, in Kroatien, und er starb im zwanzigsten Jahrhundert in der Schweiz. Dort hat er das Goetheanum errichten lassen.«
In der Schweiz! Das war also klar. Und der erste? Keine Ahnung! Aber das musste dieser famose Captain ja nicht wissen! »Veranlassen Sie bitte, dass auch diese Sachen und vor allem die Zettel so schnell wie möglich ins FBI-Hauptquartier gebracht werden!«
»Selbstverständlich.« Er schien froh zu sein, diesen Fall auf so einfache Weise los zu werden. Offenbar scheute er politische Verwicklungen. Dass er mir nebenbei zu verstehen gegeben hatte, dass auch wir beim FBI nur mit Wasser kochen, war für ihn wahrscheinlich das Highlight der Woche. Nun, mir waren solche Animositäten geläufig, und ich hatte längst gelernt, mit ihnen umzugehen.
»Ja, Captain, dann bedanke ich mich für heute, und sofern doch noch ein vierter Zettel auftauchen sollte ...«
» ... sende ich ihn natürlich umgehend nach«, versprach mir Williamson in feierlichem Ton.
»Danke, Captain.«
*
Ich verließ das Gebäude und folgte bald der Madison Avenue gen Süden, in Richtung Grand Central Station.
Ich war noch nicht lange unterwegs als mich wieder ein seltsames Gefühl überkam. Ich blieb kurz stehen und sah mich unauffällig um. Ein Typ in schwarzer Lederjacke und Camouflage-Hose starrte mich an, doch dann verlor sich sein Blick in der Ferne. Er hatte sich mehr als nur drei Tage nicht rasiert, seine Haare standen wirr zur Seite, und jetzt entfernte er sich mit langsamen Schritten in die entgegengesetzte Richtung.
»Was der wohl sucht?« , fragte ich mich und betrachtete weiter meine Umgebung. Auf der viel befahrenen Straße erspähte ich ein schwarzes Cabriolet, eine Corvette C6, die sich aus dem allgemeinen Verkehrsstrom durch eine extrem langsame Fahrweise abhob. Als ich jedoch den suchenden Blick der Frau am Steuer bemerkte, konnte ich auch diese auf den ersten Blick ungewöhnliche Situation als harmlos einstufen.
Nun fiel mir eine junge, dynamische Frau in einem eleganten dunklen Kostüm auf. Sie war schlank, dunkelblond und trug ihre Haare streng nach hinten gekämmt, wo sie zu einem Zopf gebunden waren. Während sie in forschem Schritt mit freiem Blick geradeaus den Gehsteig entlang stürmte, hielt sie ihre linke Hand am Ohr: sie telefonierte. Dabei machte sie den Eindruck als ob sie zehn Sachen auf einmal erledigen - nein: arrangieren - konnte.
Als ich noch überlegte, wie sie es bei diesem Verkehr und ihrem Tempo schaffte, niemanden zu behindern oder gar anzurempeln, signalisierte mein Telefon einen Anruf: Christina. Sie kam ohne Umschweife direkt zur Sache: »Hallo, John! Ich habe eine Verbindung mit unserem Chef hergestellt! Du musst nur noch auf Konferenzmodus gehen.«
Ich betätigte die entsprechenden Tasten, und auf dem nunmehr geteilten Bildschirm erschien neben dem Gesicht von Christina dasjenige meines Chefs. Seine dunklen Augen standen in faszinierendem Gegensatz zu dem vollen grauen Haar und dem ebenfalls grauen und wohlgestutzten Schnurrbart. Dieser Kombination verdankte er zu einem nicht unerheblichen Teil den Respekt, den ihm nicht nur seine Untergebenen und Mitarbeiter, sondern alle Menschen entgegenbrachten. Aus seiner Mimik konnte man nie irgendwelche Schlüsse auf seine Gedankengänge oder Gefühle ziehen, er wusste sich stets meisterlich zu beherrschen und machte den Eindruck als ob er ein Nachfahre der Ureinwohner Amerikas - der Indianer - sei, die es ebenfalls meisterlich verstanden, ihre Gefühle und Emotionen unter Kontrolle zu halten. - Selbstbeherrschung bis zum Äußersten! Ich hatte ihn in der jüngeren Vergangenheit des Öfteren zu Gesicht bekommen, das letzte Mal vor gerade einmal drei Tagen. Doch dieser Ausdruck in seinen Augen, den ich meinte heute zu beobachten, war in früheren Gesprächen noch nicht da gewesen. Allerdings verriet dieser Ausdruck nicht, was ihn bewegte, und es konnte ebenso gut eine Täuschung sein.
Seiner Stimme war jedenfalls nichts anzumerken, denn sie klang sonor und ruhig wie immer als er mich begrüßte: »Hallo, John! Wie geht es Ihnen?«
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