Während ihre Babys mit Brautschauer auf der Wiese fangen spielten, lagen Büffeltöter und Nachtschatten im Eingang des Baus und sahen dem munteren Treiben amüsiert zu. Die Verwandten lagen um sie herum im Halbkreis. Auch Falkenauge war darunter. Plötzlich sprang das Wolf-Mädchen auf ihn zu und forderte ihn piepsend zum Mitspielen auf.
„Komm, Bruder! Lass uns toben! Ich zieh dich an den Ohren und dann versuchst du, mich zu fangen, okay?“
„Verschwinde“, murrte Falkenauge, ohne seine Schwester anzusehen.
„Ach, bitte! Das ist doch ein lustiges Spiel. Auf! Fang mich! Fang mich!“, rief das Mädchen.
Falkenauge knurrte: „Geh weg!“
Er schob seine Lefzen nach oben, so dass ein Teil seines imposanten Gebisses sichtbar wurde.
Die kleine Wölfin kümmerte es nicht. Wieder rief sie: „Auf! Spielen! Spielen!“ Sie stupste herausfordernd mit der Nase gegen Falkenauges grauen Kopf.
„Schluss jetzt!“, brüllte er und stürzte sich auf seine Schwester. Er schleuderte sie mit seinen Tatzen zu Boden, drückte ihren zarten Körper in den Staub und stand mit gefletschten Zähnen über ihr. Das Mädchen sah in seine gelben, vor Zorn glühenden Augen und bekam große Angst.
„Tu mir nicht weh, bitte, bitte!“
„Lass dir das eine Warnung sein. Von mir hältst du dich besser fern“, sagte Falkenauge und schnappte drohend in die Luft, dicht vor der Nase des Mädchens.
Büffeltöter nickte ihm anerkennend zu. „So ist`s richtig. Erzieh die Freche!“ Zu Nachtschatten sagte er: „Falkenauge entwickelt sich zu einer Autorität. Der Junge kommt ganz nach mir.“
„Da bin ich mir nicht sicher, mein lieber Mann“, antworte die Wölfin. „Zu einem wahren Chef gehören nicht bloß Strenge und Härte. Ebenso muss er gütig und verständnisvoll sein – so wie du es bist. Bei Falkenauge sehe ich davon nichts. Ob er es noch lernt?“
Kapitel 4, in dem die Wölfe Rauchzeichen sehen, von Indianern hören und ihre Namen bekommen
An einem anderen Frühlingstag waren die Wölflinge mit Stopft-sich-voll im Wald unterwegs, als sie einen winzigen hellbraunen Kopf mit riesigen schwarzen Augen aus dem Boden schauen sahen. Ein Erdhörnchen, das die Behaglichkeit seiner unterirdischen Wohnung verlassen wollte, um Nüsse einkaufen zu gehen. Der Wolf-Junge fackelte nicht lange.
„Das ist Beute! Auf ihn!“, rief er.
„Ja, mit dem können wir Fangen spielen“, stimmte seine Schwester ein. Beide rannten los, ohne auf den Ruf von Stopft-sich-voll zu achten.
„Halt! Das ist der alte Herr Erdmann. Der spielt nicht mit euch! Den kann man auch nicht essen! So wartet doch!“, rief der dicke Wolf und lief keuchend hinter Neffe und Nichte her.
Das Erdhörnchen sah die beiden in vollem Galopp anpreschen und verzog sich mit einem gemurmelten „Ach, du lieber Himmel“ zurück in sein Loch.
„Er versucht abzuhauen! Den kriegen wir!“, sagte der Wolf-Junge. Er rannte schneller und schneller – viel zu schnell. Sein Schwung ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Also landete er – platsch – mal wieder auf der Schnauze. Seine Schwester erreichte das Erdloch und begann mit ihren Pfoten darin herumzuwühlen. Irgendwie musste sich dieser kleine Kerl, der sich unter dem Boden versteckt hielt, doch fangen lassen. Tatsächlich tauchte der Kopf des Erdhörnchens wieder auf. Jedoch aus einem anderen Loch, ein paar Meter weiter rechts. Er schnauzte Stopft-sich-voll an, der schwitzend angetrabt kam.
„Halten Sie Ihre Racker gefälligst davon ab, meine Wohnung zu demolieren! Was ist denn das für eine Erziehung, wenn die Jugend keine Achtung mehr hat vor fremdem Eigentum?!“
Stopft-sich-voll schubste seine immer noch buddelnde Nichte von dem Erdloch weg. „Herr Erdmann hat keine Lust mit euch zu toben. Los! Lauft! Geht woanders spielen“, sagte er.
„Ach, wie doof“, maulte das Mädchen. Sie lief ein paar Schritte weiter in den Wald, drehte sich dann noch einmal herum und kläffte das Erdhörnchen an, das erschrocken zusammenzuckte. Lachend über den gelungenen Streich trollten sich die Wolf-Kinder.
„Sie müssen entschuldigen, Herr Erdmann. Die Kinder … na ja, sie sind eben noch wild.“
Herr Erdmann winkte ab. „Erziehung muss sein! Das wird auch der Rabe noch einsehen.“
„Welcher Rabe?“, fragte Stopft-sich-voll misstrauisch.
„Wissen Sie es nicht? Die Raben haben einen Sohn zur Welt gebracht. Er heißt Thor. Sie haben ihm zu Ehren ein Fest gegeben.“
Der gutmütige Ausdruck auf dem Gesicht des Wolfs wurde schlagartig finster.
„Wir waren zu der Party nicht eingeladen. Und legen auch keinen Wert darauf. Was die Raben machen, interessiert uns nicht. Das ist Diebesgesindel. Überträgt Krankheiten. Schadet dem ganzen Tal. Ich hasse Raben.“
Die kleinen Wölfe bekamen vom Zorn des Onkels nichts mit. Das Mädchen versuchte, sich mit einem Mistkäfer anzufreunden und ihn zum Spielen zu überreden. Doch der schwarze Winzling reagierte nicht.
„Vielleicht musst du ihn mit der Schnauze anstupsen“, schlug der Junge vor. Seine Schwester nickte und stupste. Der Mistkäfer fiel auf den Rücken und strampelte mit seinen Beinchen in der Luft. „Hihi – wie lustig das aussieht“, lachten die Welpen. Als Stopft-sich-voll dazu kam, schimpfte er: „Hört ihr nicht, dass der arme Kerl um Hilfe ruft? Mistkäfer bekommen Angst, wenn man sie auf den Rücken dreht!“
„Ich höre ihn nicht rufen“, sagte das Mädchen.
„Wahrscheinlich, weil ihr im Unterricht eurer Mutter vor euch hin geträumt habt, mhm? Bringt sie euch nicht die Sprachen der Tiere bei?“
„Doch“, antworteten die Kinder. „Wir sind aber erst beim Buchstaben D wie Dachs. Und Mistkäfer ist ein M-Tier.“
„Verstehe“, sagte Stopft-sich-voll schmunzelnd. „Nun ja, jedenfalls drehen wir den Mistkäfer nun wieder herum, damit er festen Boden unter seinen Füßen spürt. Danach lassen wir ihn in Ruhe und gehen weiter. Mistkäfer sind keine guten Spielkameraden für Wölfe. Viel zu zerbrechlich. Wir verletzen sie, wenn wir uns auf ihnen herumwälzen. Zum Essen sind sie auch nicht geeignet. Sie schmecken wie Schei … äh … ich meine, sie schmecken bescheiden. Kein Vergleich zu einem Wapiti-Hirsch. Mjam, mjam, mjam ... Wapiti-Hirsch!“ Bei dem Gedanken an das saftige Fleisch lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Sie wanderten weiter. Nach einer Weile blieb das Mädchen wie angewurzelt stehen. Es schnupperte in die Luft, nach links und rechts.
„Das riecht aber komisch hier.“ Am Horizont, wo der Wald endete und ein massiver Berg in den Himmel ragte, stiegen dunkelgraue Wolken auf. „Was ist das?“
„Lasst uns gehen, Kinder“, sagte Stopft-sich-voll leise.
„Warum? Ich will mir das ansehen. Ich will zu den Wölkchen gehen“, sagte das Mädchen. Bevor seine Nichte losrennen konnte, versperrte ihr Stopft-sich-voll den Weg.
„Du machst was ich sage und gehst brav mit uns nach Hause. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder.“
Der Wolf-Junge hatte die Ohren angelegt und kauerte am Stamm einer Kiefer. Ihm waren diese Wolken nicht geheuer. „Was ist das, Onkel?“
„Man nennt es Rauch. Er entsteht, wenn ein Feuer brennt.“
„Feuer?“, fragte das Mädchen.
„Feuer ist heißer als die Sommersonne und tut sehr weh, wenn man es berührt. Die Indianer haben das Feuer angezündet. Sie leben am Fuß des blauen Berges.“
Die braunen Augen der Wölfin vergrößerten sich staunend. „Was sind denn Indianer?“
„Sie laufen auf zwei Beinen, schmücken sich mit Federn und tragen lange Stöcke mit spitzen Enden. Damit machen sie Jagd auf uns. Ja, meine Kleinen. Die Indianer sind unsere Feinde. Wenn sie uns erwischen, töten sie uns. Ein paar von unseren Freunden und Verwandten haben sie bereits erlegt.“
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