Christian atmet tief durch, als er sich von innen gegen seine geschlossene Zimmertür lehnt. „Mann, ich dachte, mir bleibt das Herz stehen.”
Isa muß grinsen, will aber erst noch etwas wissen. „Brüder? Welche Brüder? Seit wann gehen große Jungs so früh schlafen?“
„Meine Brüder sind erst ein Vierteljahr alt, Zwillinge.“
„Ach wie süß”, ist Isa begeistert, „und Karin und Tessa? Sind das Verflossene oder Deine Schwestern oder so?“, wobei sie schmunzelnd den Kopf schräg legt.
„Wenn sie sich nur schon verflüssigt hätten, diese hauptberuflichen Witzboldinen“, verzieht Christian sein Gesicht. Die Sonnencremeschutzattacke vom Vormittag kommt wieder hoch. „Meine überflüssigen Schwestern sind das. Zu nichts zu gebrauchen. Schall de Düvel de twee …“
Isa amüsiert sich. „Ach, Du liebst sie ja doch, jetzt tu mal nich’ so.“
Christian grinst nun doch ein wenig. Die Idee, seinen Besten vor Sonnenbrand zu schützen war so schlecht nun auch wieder nicht, und Isa fühlt sich an ihren sechzehnjährigen Bruder Thoralf erinnert, der momentan nur spinnt und aus dem gerade alle pubertären Ungereimtheiten herauspickeln. Als sie ihn nach seinem zweiten Vornamen fragte und er verwundert meinte, er habe doch keinen, und als Antwort bekam „Streuselkuchen”, konnte sie nur noch rennen. Abends lieferte er ihr die wildeste Kissenschlacht des Jahres, und als sie unterlegen „Aufgabe” japste fragte er, wie er heiße. Schwer atmend hatte sie geantwortet, daß er Thoralf heiße - und mit zweitem Vornamen “Streuselkuchen“. Schallend lachend konnte sie sich befreien und kreischend im Bad verbarrikadieren. Das letzte Lachen aber hatte er - dummerweise. In der Tür war zum Lüften und Lichteinfall ein schrägzulegendes Klappfenster eingebaut worden. Das war geöffnet, was Isa in ihrer Aufregung nicht bemerkt hatte, und schon hatte er einen Eimer eiskalten Wassers heruntergeschüttet. Das Duschen konnte sie sich danach sparen. Ihren Aufschrei hat er sehr genossen. Sie liebt ihren kleinen Bruder, aber im Moment ist er die reine Pest. Dann fährt sie fort: „Ich weiß gar nicht, was Du hast. Dein Vater ist doch ein cooler Typ. Ich hab’ mich zwar auch erst erschrocken, aber nur weil Du so getan hast, als wäre da niemand, und dann … Führst Dich ja auf, als würde Dein Vater auf Besuch schießen.”
„Na ja, können könnte er schon.” Christian vollführt pantomimische Bewegungen des Coltziehens, Feuerns, theatralischen Pulverdampfwegpustens und Waffeeinsteckens.
„Wie bitte? Hat er etwa eine Waffe?”
„Nicht nur eine.”
Was macht er denn beruflich?” Isa wird neugierig. „Bei der Kripo ist er, Erster Hauptkommissar, und Reservefregatte ist er auch noch, und er kann mit den Dingern umgehen, das kann ich Dir sagen.”
„Dein Papa ist ja richtig gefährlich”, schmunzelt sie vor sich hin, aber damit meint sie etwas anderes. „Der sieht ja irre gut aus”, und fügt neckend hinzu, „kein Wunder, bei dem Sohn …”
„Und ich? Ich bin nicht gefährlich?” Christian fühlt sich plötzlich leicht unterschätzt und verdrängt.
„Ach, Du mein armer Romeo”, hüllt sie ihn mit stimmlichem Bedauern ein, und das Handtuch fallenlassend, „Du darfst mir heute nacht so oft zeigen wie gefährlich Du bist, wie Du nur kannst, mein Ritter von der Lanze, aber jetzt nicht”, und dabei umkreist sie ihn und fährt mit ihrem rechten Zeigefinger von seinem Bauchnabel um seine Hüfte über den Rücken und die Hüfte zum Bauchnabel und legt dann beide Hände gegen seine Brust. Sie spürt seinen schneller gewordenen Herzschlag.
„Hhm, das wird heute nacht sehr interessant werden, aber jetzt brauchst Du eine kalte Dusche. Wo ist das Bad?”
„Gleich gegenüber.”
„Na, dann geh. Verlaufen wirst Du Dich ja nicht” und schiebt ihn, die Tür öffnend, hinaus.
*
Der leicht ramponierte VW-Bus aus München biegt in eine einsame Straße ein, die zu einem Landsitz führt. “Thannhusen, 2 km” zeigt ein Hinweisschild an. Die Sonne ist längst untergegangen, selbst die letzte Resthelligkeit weicht bei wolkenlosem Himmel der Schwärze der Nacht.
„Na endlich”, brummt der Beifahrer. „Ich dachte schon, Du hättest das Nest verfehlt.”
„Halt die Klappe”, blafft ihn der Fahrer an, „ich finde alles, auch ohne Navi, denn ich rieche, wo es Geld gibt”, was er mit einem leisen, aber dreckigen Lachen unterstreicht.
Der Beifahrer wendet sich nach hinten, wo Paul Morenga und sein tansanischer Kumpel Arm in Arm in ihren Sicherheitsgurten, die Köpfe aneinander gelehnt, schon lange eingeschlafen sind. „Sehen die beiden nicht süß aus?”, grinst er, aber es ist ein böses Grinsen.
Der Fahrer sieht in den Innenrückspiegel und fixiert die Jungen kurz, um sich gleich wieder auf die Straße zu konzentrieren. „Dafür werden wir bezahlt, für süße Jungs. Anderes Spielzeug kann der Auftraggeber nicht gebrauchen. Und jetzt sei still. Wir sind gleich da.”
Der VW-Bus hält an einem geschlossenen Tor. Der Fahrer steigt aus, meldet sich an der Gegensprechanlage an, worauf sich die Torflügel fast geräuschlos öffnen. Der Kleinbus fährt ein Stück befestigter Straße, wird auf einen Kiesweg gelenkt und hält bald darauf vor einem alten Landhaus aus dem 19. Jahrhundert. Drei Fenster des großen Gebäudes nach vorn sind erleuchtet und der Eingangsbereich. Als der VW-Bus vor dem Haus hält, tritt ein großer, etwa dreißigjähriger Mann heraus, sehr gut aussehend, elegant gekleidet. Die beiden Fahrer steigen aus. Der junge Mann kommt auf sie zu und fragt grußlos mit kalter Stimme:
„Haben Sie die bestellte Ware dabei? Farbig, gesund und unbenutzt?”
„Dachten Sie etwa, daß wir …?”, will sich der kräftige Fahrer empören.
„Was ich denke, geht Sie nichts an“, wird er eisig zurechtgewiesen. „Also, ist die Ware in Ordnung?”
„Selbstverständlich”, übernimmt der Beifahrer, „sehen Sie selbst.” Dabei öffnet er die Seitentür und der junge Mann sieht hinein, betrachtet die beiden schlafenden Jungen. Die Augen des Dreißigjährigen funkeln böse, bis auf ein leichtes Zucken um die Mundwinkel ist seine Mimik teilnahmslos.
„Wie alt?”
„Beide Fünfzehn.”
„Gut ausgestattet?”
„Vor allem der schwarze Bengel, der Paul heißt. Wie ein junger Esel. Der zweite Tansanier ist auch nicht schlecht.”
„Gut. Haben Sie die ärztliche Gesundheitsbescheinigung für beide dabei?” „Selbstverständlich.“ Der Fahrer greift an der innen an der Fahrertür in ein Netz und hält ihm eine schmale Mappe hin. Der Dreißigjährige nimmt sie ihm ab und greift in seine Jackentasche. „Hier sind die Zwanzigtausend, wie vereinbart” und reicht dem Beifahrer einen dicken Umschlag. „Und jetzt holen sie die beiden heraus.”
Der Beifahrer steckt den Umschlag grinsend ein, dann rüttelte er die beiden Jungen wach, die völlig verschlafen um sich sehen und versuchen, sich zu orientieren.
„Is this our new school?” will Paul wissen.
„Ja, siß is jur nju houm. Hihr ju will lörn ewerißing ju nied. Komm aut!”
Zögernd folgen die beiden der Aufforderung. Der Dreißigjährige flüstert leise etwas in ein Sprechgerät. Kurz darauf geht die Tür auf und ein weiterer junger Mann kommt heraus, ebenso gut aussehend und elegant gekleidet, groß und kräftig, und ebenso kalt in der Ausstrahlung.
„Bring die beiden hinein. Sie sollen gleich duschen. Man wartet schon.”
Der Angesprochene tritt auf die Jungen zu und bedeutet ihnen mit „Follow me” ins Haus zu gehen, aber er bleibt hinter ihnen. Paul ist sich nicht mehr sicher, was mit ihnen geschieht, der junge Tansanier schaut ängstlich.
„Und Sie verschwinden wieder. Gute Fahrt, und keine Quartiernahme vor Hamburg, verstanden?” Er will sich abwenden, wird aber am Arm festgehalten, was er mit einem scharfen Blick wortlos rügt, worauf er losgelassen wird.
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