„Ach, der alte Handerson. Der hat sich ganz natürlich davongemacht.”
Professor Anderson schlägt auf dem Nachbartisch das grüne Tuch bis zur Brust des Toten zurück.
„Herzstillstand. Die Kopfwunde hat er sich im Todesfall zugezogen. Ein schöner, schmerzloser Tod. Hätte es nur nicht im Stehen machen dürfen.” Anderson schmunzelt, wie nur sein Berufsstand in der Nähe des Todes schmunzeln kann.
„Na, dann wird der Staatsanwalt die Leiche sicher bald freigeben.”
„Hat er schon. Die Bestatter kommen gleich.” Professor Anderson deckt den Toten wieder ab. „Können sich die Erben freuen?”
Malvoisin nickt, schmunzelt nun seinerseits und berichtet gestenreich.
„Oh ja, das tun sie sicher. Fünf Häuser, davon eins in bester Lage in Eutin, 30 Ferienwohnungen in Dahme, Kellenhusen und Grömitz, etwa 350.000 €uro Mieteinnahmen im Jahr. Da fließen nur Freudentränen. Dat glöv man. Er war 93, hat zwei Frauen überlebt, zwei seiner sechs Kinder, ein schönes Leben gehabt. Trauer ist da doch nur Heuchelei. Da lob ich mir Irland. Der Tote inmitten der Party, einer singt ihm ein herrlich traurig-schönes irisches Totenlied und dann wird gefeiert. Der Alte hat’s überstanden - herrlich.” Malvoisin seufzt leicht. Die Iren sind um ihre menschenfreundliche Trauerkultur zu beneiden. „Fritz, laß uns gehen. Danke Klinge, und tschüs. Bericht genügt morgen früh.” Malvoisin klopft Anderson dankend gegen den linken Oberarm und geht hinaus.
„Mange tak.” Langeland zuckt die Achseln und folgt seinem Chef. Professor Anderson sieht beiden nach und räuspert sich durch.
„Lilli!”
„Ja, Chef?”
*
Nachdem Malvoisin und Langeland in Dahme die Kurverwaltung und alle Strandkorbvermietungen abgeklappert haben, überall nur Kopfschütteln, machen sie sich auf den Weg nach Kellenhusen.
Auf Höhe Gruberdieken bedeutet Malvoisin seinem Partner, an der Polizeistation in Grube anzuhalten. Vor der Hauptstr. 69 läßt er sich Langelands Kamera geben und steigt aus. Nach zehn Minuten kommt er zurück.
„So. Nu’ hat Arne Weber auch sein Fahndungsphoto. Über die Eichelportraits hat er sich etwas gewundert. Ob er das vorzeigen solle! Und er darf die Zimmer- und Wohnungsvermieter in Dahme und Umgebung abgrasen.”
„Hat er sich gefreut?”
„Er konnte es verbergen.”
„Kellenhusen?”
„Jou, aber halte bitte da vorn bei Aldi an. Maren wollte noch ein paar Kleinigkeiten. Da spart sie sich einen Weg.”
„Ein Hoch der Ehe, ein dreifach Hoch.”
„Frier Dein Grinsen wieder ein, alte Spottdrossel.”
„Spottdrossel? Na bitte, aber alt verbitt ich mir.”
„Mimose.”
Sticheleien unter Freunden, nicht böse gemeint, aber wenn sie sein müssen, müssen sie sein.
Malvoisin weiß, was er will, und so ist der Einkauf schnell erledigt. Aber er ärgert sich wieder. „Für dasselbe in D-Mark wär’ der Einkaufswagen voll gewesen, bis obenhin. Scheiß €uro!“
Langeland biegt in die Waldstraße nach Kellenhusen ein, durchfährt den Eutiner Staatsforst, als ihn Malvoisin auffordert gegenüber der Bushaltestelle am Kriegerdenkmal anzuhalten. Er hat seine Tochter Tessa entdeckt. Malvoisin steigt aus.
„Tessa. - TESSA!”
Das Mädchen dreht sich um und winkt ihm lachend zu.
„Hallo, Papa! Schon Feierabend?”
Malvoisin öffnet den hinteren Schlag, holt die Einkaufstasche heraus und überquert die Straße.
„Hallo, meine Kleine.” Die beiden tauschen Wangenküsse. Er hält ihr den Einkauf hin. „Nimm das bitte mit. Deine Mutter wartet darauf.”
„Muß das sein?” Tessa zieht ein mauliges Gesicht. „Ich bin mit Corinne verabredet.”
„Heißt Deine Mutter Corinne?”
„Papa!” Tessa quengelt.
„Du willst doch sicher etwas zu essen haben, nicht?” „Ich bin nicht so verfressen.”
„Ausrede Nr. 117? Du kennst den Weg nach Hause, und unterwegs kannst Du über Ausrede Nr. 118 nachdenken. Marschrichtung Denkmalstraße, Schlehenkoppel. Dein Zuhause kennst Du. Abmarsch!”
Tessa merkt, daß weiterer Widerspruch sinnlos ist, nimmt die Tasche und zieht beleidigt ab.
Malvoisin sieht seinem kleinen Liebling kopfschüttelnd, aber lächelnd nach.
„Falls ‘was ist, sag’ Deiner Mutter, daß wir jetzt etwa zwei Stunden dienstlich auf der Promenade sind”, ruft er ihr nach.
„Ja, ja.” Sie ist stinkig.
Tessa zückt im Gehen ihr Handy und tastet eine Nummer ein. Als die Angerufene sich meldet, bleibt sie stehen und stellt die Tasche ab.
„Corinne? - Ich bin gerade meinem Vater in die Arme gelaufen. - Nee, auf dem Weg nach Hause. - - Ich schleppe gerade den Einkauf. - Warum? Hast Du nicht schon mal gesehen, wie uncool mein Vater einen ansieht, wenn er uncool wird? - In ‘ner Stunde am Café Daggi? - Das kostet ihn zwei große Eisbecher. - Hast Du schon wieder einen im Visier? - Oh cool! Wie sieht er aus? …” Tessa grinst und schaltet ihr Kopfkino ein.
Derweil biegt Langeland in den Ring Richtung Strandstraße ein, fährt am Theehaus vorbei, überquert den Landesdeich und stellt den Wagen auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Strandcasino ab.
„Wir gehen erst einmal zum Kurmittelhaus und nehmen uns von dort aus alle Korbvermieter vor. Am Hundestrand wird er wohl nicht gewesen sein, aber fragen müssen wir natürlich.”
„Also, wieder mal Aktion Nadel im Heuhaufen.”
„Du sagst es.”
Während sie den Platz zwischen Strandkaufhaus und Strandcasino überqueren, hört Malvoisin hinter sich eine ihm wohlbekannte Stimme:
„Martin, hallo!”
Malvoisin dreht sich um und sieht einen strahlenden Christian von Langfuhr auf sich zukommen.
„Ja, Christian, das gibt’s ja nicht. Wo kommst Du denn her?” Malvoisin nimmt seinen Rembrandt ab. Die Freunde fallen sich um den Hals und begrüßen sich herzlich.
„Im Moment komme ich von Mama Lehmann.”
„Wolltest Du nicht erst in zwei Wochen anreisen?”
„Es hat ein Gast bei Mama Lehmann abgesagt, sie hat mich gefragt, ob ich früher kommen will. Die Verlängerung kam mir zu pass, und da bin ich.”
„Großartig. Maren wird sich freuen und Christian erst. Aber entschuldige uns bitte. Wir sind am Anfang von Ermittlungsarbeiten und müssen weiter. Ein reichlich seltsamer Fall. Scheint mir ähnlich rätselhaft wie mit Malte Kröger.”
„Na, da bin ich wohl wieder genau zur rechten Zeit gekommen.” Langfuhr wittert eine weitere gute Geschichte.
„Mag sein, mein Alter. Meinen Kollegen Frederik Langeland kennst Du sicher noch.” Malvoisin macht eine vorstellende Handbewegung. Die Männer reichen sich die Hand.
„Aber natürlich. Moin, Herr Langeland.”
„Moin, Herr von Langfuhr.” Er lächelt ihn freundlich an und staunt innerlich über den kräftigen Händedruck eines Tintenklecksers. Eine Erinnerung an Langeland läßt Langfuhr einen Tick mehr lächeln als sonst bei einer angenehmen Begrüßung.
„Dann viel Glück Euch beiden.” Zu Malvoisin gewandt: „Du, ich komm’ bald zu Euch ‘rüber. Sag’ Deinen Lieben schöne Grüße.” Und zu Langeland gewandt: „Und für Sie hoffe ich, daß es am Ende nicht wieder Wasser von oben gibt. Man sieht sich.” Langfuhr grient, so wie man eben grient, wenn man sich einen begossenen Pudel vorstellt, und setzt damit seinen Weg fort.
Langeland sieht ihm nach. „Das weiß er noch?”
Malvoisin schmunzelt. „Schriftsteller und Historiker merken sich alles - und er ist beides.”
„Dusend Düwels, da muß man ja aufpassen, was man sagt.”
„Das mach’ man, sonst findest Du Dich in einem seiner Bücher wieder. Aber jetzt komm. Wir haben zu tun.”
*
In Kristin Holmdóttirs Haus haben die Künstlerin, Jan und Christian es sich auf einer Sitzgruppe beim Kamin bequem gemacht. Sie hat ein paar kleine Sandwiches vorbereitet, dazu eine Auswahl an Fruchtsäften und kaltem, leicht gesüßtem Tee bereitgestellt. Christian hat die erste Verwirrung um Sigrun überwunden, äußerlich zumindest. Er stellt Kristin neugierige Fragen.
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