Liling dachte sich: Welch’ ein Kontrast zu Beijing, seinem Schmutz und seinem Smog. Hier würde sie gut leben können, sie und viele ihrer Landsleute. Wenn diese Menschen hier erst mal alle weg sind. Wenn Platz ist. Diese Menschen hatten ein schönes Leben. Es war Zeit für sie abzutreten. In sechs Monaten würde Hamburg chinesisch sein.
Der Wagen bog rechts in die Bürgerweide ein und fuhr die Sievekings Allee entlang. Langsam änderte sich das Umfeld. Ab dem Horner Kreisel war es vorbei mit der Oberschicht. Ab hier begann die Unterschicht. Ab hier begann Armut und Tristesse. Fünf Minuten später hielt der Wagen vor dem Zielgebäude.
Sun stieg aus, scannte kurz die Umgebung und nickte Liling zu. Auch sie stieg aus. Beide gingen zum rechten Eingang des Gebäudes. Vor dem Eingang lungerten mehrere junge nordafrikanische Männer herum, warfen Liling geile Blicke zu und machten schlüpfrige Kommentare. In dieser Nachbarschaft sah man nicht viele Frauen von Lilings Format. Aber nachdem sie Sun in Augenschein genommen hatten, senkten sie ihre Blicke und verstummten. Ein Leben im Problemviertel lehrt einem früh zu erkennen, mit welchen Typen man sich anlegen konnte und mit welchen definitiv nicht. Für Sun galt Letzteres.
Liling und ihr Begleiter gingen rein. Aufzug. Siebter Stock. Es roch muffelig nach orientalischem Essen, Urin, Erbrochenem und allgemeiner Verwesung. Sun hielt vor Apartment 76. Er klopfte. Ein arabisch stämmiger Mann Mitte zwanzig öffnete die Tür, musterte beide mit einem teilnahmslosen Blick und machte eine Kopfbewegung in Richtung Diele. Sun ging vor und scannte die Umgebung. Liling ging hinterher.
Der erste Raum links war die Küche. Zwei weitere Männer saßen um den Küchentisch, hatten Teegläser vor sich und rauchten. Khalid, der Mann vom Eingang, ging rein und zeigte lässig mit dem Daumen über seine Schulter die Diele entlang. „Ali ist im Gebetsraum, hinten rechts.“
Liling deutete Sun an, hier zu bleiben. Er stellte sich rechts neben die Tür mit dem Rücken nach hinten vor ein Ikea-Regal und behielt die Männer im Auge. Diese verfielen daraufhin unbeeindruckt in ein Gespräch. Sie sprachen arabisch und lachten.
Liling ging die Diele weiter entlang, nahm ihren Rucksack ab, öffnete den seitlichen Reisverschluss und griff in die Innentasche. Da war ihre PPK. Sie war geladen und gespannt. Wenn jetzt etwas schief geht, könnte sie sofort schießen. Die drei Männer in der Küche wären in drei bis vier Sekunden tot, dafür würde Sun sorgen. Liling und Sun wären in einer Minute wieder im Auto, nachdem sie die Männer vorm Eingang ebenfalls umgebracht hätten. Aber das war der Ausgang, den sich Liling am wenigsten wünschte. Das hier musste gut gehen, sie wollte Dù nicht enttäuschen, nicht noch einmal. Liling öffnete die Tür.
Sie schaute sich zunächst im Raum um. Es war nur ein Mann zugegen. Teppiche auf dem Boden, Gardinen am Fenster, fast ein bisschen schnöde für einen international gesuchten Topterroristen. Sie ließ die Pistole los, zog den Reisverschluss ihrer Handtasche zu und stellte sie auf dem Boden.
Ali Abu Salem stand am Fenster, breitschultrig, muskulös, groß gewachsen, das Hemd lässig über die Jeans tragend. Er drehte sich um und nahm Liling in Augenschein. Er hatte ein markant geschnittenes Gesicht. Er sah nicht aus wie jemand, der sich aus der Gosse hochgearbeitet hatte, weder nach Kleinkriminalität noch nach Jugendknast, sondern eher wie ein Sproß aus gutem Hause.
Ali war der Sohn eines jordanischen Ingenieurs und in Köln/Ehrenfeld geboren. Wie viele seiner Generation, hatte er vollkommen normal in Deutschland die Schule durchlaufen, Abitur gemacht und die Fachhochschule besucht, mit dem Ziel bei Ford oder anderswo eine feste Anstellung, ein solides Gehalt und eine Freundin zu finden. Pauschalurlaub, Sofalandschaft und Flachbildschirm, dazu ein Firmenwagen und vielleicht ein paar Kinder. Das war der Plan gewesen.
Aber mit dem Bürgerkrieg in Syrien begann der Hype um IS und Jihad. Auf einmal sprachen Freunde von Ali über den Kampf gegen die Ungläubigen, was es bedeutet ein Muslim zu sein. Und es erwachte in ihm der Wunsch mehr zu sein, als ein Mann mit einer Couchgarnitur. Er wollte ein Mann mit einer Mission, einer Aufgabe sein.
Als sein bester Freund Mehmet seine Vorbereitungen für den Flug in die Türkei begann, fühlte Ali einen Drang, eine Furcht, etwas könnte an ihm vorbei gehen – eine Chance auf ein wirklich erfülltes Leben. Und Mehmet fragte ihn: „Willst du nicht mitkommen nach Syrien. Wir kämpfen gegen das Schwein Assad und machen die alawitischen Ketzer platt. Wir helfen den Islamischen Staat aufzubauen. Dann kämpfen wir gegen die Scheiß-Amerikaner und die Scheiß-Juden. Es wird Zeit, dass sie bezahlen für unsere andauernde Demütigung.“
Ali rang mit sich. Er hasste die Amerikaner und die Deutschen konnte er nicht viel besser leiden. Außerdem war er des sinnentleerten Lebens überdrüssig. Verglichen mit dem öden Studentenleben - der ewigen Paukerei, den wenigen, total langweiligen Partys mit viel zu vielen Typen und ein paar hässlichen dicken Mädchen - erschien die Perspektive in Syrien ’ne geile Jihad-Nummer aufzuziehen geradezu verlockend. Auch wollte er dem ewigen Gefühl, ausgegrenzt – der Kanacke - zu sein - entfliehen und zu etwas Großem, etwas Bedeutendem dazu gehören. Ali stieg ein.
Er schmiss das Studium, nahm sein Erspartes, buchte einen Flug in die Türkei und überquerte Anfang 2016 bei Kilis die Grenze zum Islamischen Staat. Das war zu der Zeit, als die härtesten Kämpfe mit dem Irak durchstanden werden mussten. Ali war ein guter Kämpfer. Er hatte Mut, konnte unter Stress klar denken und avancierte bald zu einer Führungsfigur. Er machte sich einen Namen bei der Eroberung von Mosul.
Später, hatte er erkannt, dass er als Import-Jihadist nicht nach oben kommen würde. Die Top-Ränge waren für Iraker, Syrer und Saudis reserviert. Als es mit dem IS bergab ging, entschied er sich aus dem Staub zu machen. Er hatte mittlerweile das Terrorgeschäft gelernt und verfügte über ein ausgedehntes Netzwerk zu internationalen Drahtziehern des Terrorgeschäfts und den Finanziers. Mehrere seiner Freunde hatten sich selbstständig gemacht und ihm Tipps gegeben. Er hatte alles was er brauchte. Mehmet war inzwischen den Märtyrertod gestorben und es hielt ihn eigentlich nichts mehr in Syrien. Also machte er sich auf nach Europa. Hamburg war sein Ziel.
Es war erstaunlich einfach, wieder nach Deutschland zu kommen. Er hatte sich unter die Flüchtlinge gemischt und sich als Syrer ausgegeben, und weil er mittlerweile den syrischen Akzent drauf hatte, ging er als Flüchtling durch. Hier in Horn wurde er einquartiert, wie er es gewünscht hatte.
Er hatte in nur sechs Monaten einen kleinen loyalen Kreis von fünf Kämpfern rekrutiert und einen weiteren Kreis von etwa zwanzig verlässlichen Männern aufgebaut. Den Chinesen gegenüber hatte er seine Organisation als viel größer dargestellt, er hatte schließlich Konkurrenz. Er wusste aber, dass da draußen noch hunderte von frustrierten Männern herumlungerten, die nur darauf aus waren, es den arroganten Deutschen zu zeigen. Und Ali wusste wo er sie finden konnte. Er würde ihnen die Chance ihres Lebens geben, und sie würden ihn dafür reich machen. Er bekam von den Chinesen für diesen Auftrag zehn Millionen US-Dollar. Und Waffen bekam er dazu. Der Kontaktmann hatte ihm gesagt, dass eine Agentin die Waffenlieferung durchziehen würde, er hatte aber nichts von einer Sexbombe gesagt. Ali war positiv überrascht. Er ging auf Liling zu und lächelte.
„Frau Chan! Schön sie zu sehen. Ihr Kollege, Herr Li hat mir gesagt, sie würden sich um meine Waffen kümmern.“
Liling lächelte zurück.
„Ja, das werde ich. Schon sehr bald werden sie die Ungläubigen in Scharen abschlachten können und als großer Held des Islams gelten.“
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