Yu hoffte inständig, niemand würde jetzt noch in den Details bohren, sonst hätte er eventuell noch lügen müssen, statt nur über-optimistisch die Realität zu verzerren. Für Falscheinschätzungen, Fehler oder Unfähigkeit bekam man in China als altgedienter Kommunist lebenslangen Hausarrest. Für das Belügen des Staatspräsidenten aber bekam man die Kugel.
Zhou signalisierte General Yao, dass seine Zeit zu sprechen gekommen war. Der General nickte ehrerbietig, stand auf, zog seine Uniform gerade und setzte zu seinem Vortrag an, während sich Yu Changchun, von der Qual erlöst, setzte.
„Ich danke meinen Vorrednern für ihre Erläuterungen. Der Verteidigungsminister, Genosse Wong, sprach mir in vielen Belangen aus dem Herzen. Auch ich leide mit unserem Volk und empfinde die katastrophale Umweltsituation - ebenso wie er - als unerträglich. Heute stehen wir in einer großen Pflicht. Wir müssen für das chinesische Volk den richtigen Weg finden. Wir müssen den Mut und die Tatkraft, aber auch die Klugheit und die Besonnenheit aufbringen, das Richtige zu tun.“
Wong Li wusste was kommen würde und ballte unter dem Tisch seine Faust.
Yao fuhr fort: „Unser aller Lehrmeister, Sun Tzu, hat hierzu folgende Grundregel für den Sieg festgelegt: ‚Derjenige gewinnt, der weiß, wann man zu kämpfen hat und wann nicht.‘ Diese Weisheit sollten wir bedenken, wenn wir uns heute entscheiden.“
Er schaute Shi Deliang an. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie gerne Shi ihn jetzt erschießen würde, wie er allergrößte Mühe hatte, an sich zu halten. Seine Gelegenheit würde in ein paar Minuten kommen. Aber jetzt war er, Yao, dran.
„Die heutige Entscheidung ist zunächst simpel – sollen wir gegen den Westen Krieg führen oder sollen wir den mühevollen und oft erniedrigenden Weg der Diplomatie gehen? So einfach die Entscheidung sich darstellen lässt, so gravierend sind die Folgen für unser Volk.“ Er holte tief Luft.
„Der Krieg lässt keine Mäßigung zu. Er tendiert immer zum Äußersten. Wir planen Völker zu vernichten. Wir planen, sie mit äußerster Härte und ohne jede Gnade oder Mitgefühl zu töten. Ironischer Weise war es ein Europäer, Niccolo Machiavelli, der die Regel aufgestellt hat, dass man Freistaaten entweder vernichten oder seine Residenz dort aufschlagen soll. Wir wollen beides tun: die Bevölkerung vernichten oder vertreiben und unsere Residenz dort aufschlagen. Wir beenden die Geschichte eines Kontinents und beginnen unsere eigene Geschichte in einer neuen Heimat. Wenn wir aber die Vernichtung von Männern, Frauen, Kindern und Greisen planen, sind wir imstande die Antwort des Schicksals zu ertragen?
Wir sehen uns in einem sozialdarwinistischen Kampf der Gesellschaften. Und in der Geschichte waren es bisher immer wir, die gedemütigt wurden. Deswegen wähnen wir uns heute im Recht. Aber können wir deswegen Völker vernichten? Beschwören wir nicht damit unsere eigene Vernichtung herauf?“
Er blickt um sich in die Runde.
„Wenn die Europäer erst einmal begriffen haben, dass es um ihre Existenz geht, dann sollten wir uns auf den härtesten, grausamsten und entschiedensten Abwehrkampf einrichten, den man sich vorstellen kann. Meine Aufgabe als General ist, den Feldzug in allen seinen Möglichkeiten mit meinen Kollegen aus dem Militär zu durchdenken. Wenn wir unseren Feind kennen und wissen wie er zu agieren pflegt, können wir seine Schritte vorausberechnen und uns entsprechend einstellen. Wie das Wasser sich ohne Mühe und vollständig an das Flussbett anpasst, so müssen wir uns an unseren Gegner anpassen.“
Er schaute an Shi vorbei, nach rechts zu den anderen Militärs.
„Was werden die Europäer tun, um sich zu wehren? Von wem werden sie Hilfe erbitten? Wird sie gewährt werden? Wird ihr Widerstand zusammenbrechen? Viele Fragen sind offen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden werden.“ Er fasste den Direktor der Rüstungsabteilung ins Auge:
„Yu, können wir sicher sein, dass alle Flugroboter in genügender Anzahl vor Ort gebracht, gewartet und ersetzt werden können?“
Sein Blick wanderte weiter nach rechts zum Kommandeur der Luftwaffe.
„Xu, können wir sicher sein, dass unsere russischen Genossen, die Lufthoheit schnell erobern und dauerhaft verteidigen können, bis jeglicher Widerstand auf dem Boden gebrochen ist? Und du, Meng“, er wandte sich an den Kommandeur der Raketenstreitmacht, „können wir sicher sein, dass die nuklear bestückten Raketen der Briten und der Franzosen rechtzeitig in unsere Gewalt gebracht oder zerstört werden, bevor sie auf unsere Heimat abgeschossen werden können? Können wir alle ihre Satelliten zerstören? Und zuletzt du Shi, wird die biologische Waffe den gewünschten Effekt haben? Werden alle Sozialsysteme zusammenbrechen? Panik, Anarchie, Mord und Totschlag ausbrechen und die Menschen verzehren?“
Er wandte sich ab, blickte auf seine Hände, die er vor sich auf dem Tisch abgelegt hatte. „Tausend Fragen bevölkern meinen Kopf, aber noch größer ist ein Zweifel in meinem Herzen. Ist es so, dass die Europäer wirklich die Feiglinge und Schwachköpfe sind, wie wir es vermuten? Völker, die tausende von Jahren unablässig gegeneinander Krieg geführt und über fünf Jahrhunderte hinweg die Welt beherrscht haben. Sind diese Völker innerhalb von nur zwei Generationen wirklich so unfähig geworden, dass wir ihre Chancen auf die Verteidigung ihrer Heimat so gering schätzen?“
Er atmete lange ein und schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht glauben. Unser Sieg ist schon möglich, doch ich denke unsere Männer werden einen furchtbaren Kampf eingehen müssen, schlimmer als wir ihn uns je vorstellen können.“
Ein leises Raunen ging im Kreis der Militärs um. Dass der ranghöchste Offizier Zweifel am Erfolg der Kampagne äußern würde, das hatten die Anwesenden nicht vermutet. Die Stimmung war im Begriff, in eine gefährliche Richtung zu kippen.
Zhou wusste, dass er jetzt agieren musste, sonst könnten Zweifel überhand nehmen. Er nickte in Richtung von Shi Deliang. Er musste es jetzt richten. Shi lies keine Sekunde verstreichen.
„General Yao hat unsere Herzen mit Furcht erfüllt, wo er als oberster militärischer Führer eigentlich unseren Mut und unsere Entschlusskraft stärken sollte. Er hat Zweifel an der Schnelligkeit unseres Erfolgs genährt und ein Zaudern an den Tag gelegt, wie es eines so großen Feldherrn unwürdig ist.“
Er stand auf und sah dem General ins Auge.
„Er hat erstens nicht bedacht, dass wir das Wichtigste, nämlich das Element der Überraschung, auf unserer Seite haben. Er hat zweitens, ebenso wenig bedacht, dass wir doppelt so viel industrielle Wirtschaftsleistung haben, wie die Europäer. Über drei Jahrzehnte haben ihre Unternehmen uns, für ein paar Prozent mehr Ertrag, quasi ihre ganze produzierende Industrie übertragen. Drittens, die Technologien konnten wir von ihnen stehlen, weil es ihnen egal war. Sie glaubten, wir könnten sie nicht weiterentwickeln, doch wir haben es getan. Heute, haben nur die Amerikaner die Fähigkeit, uns Paroli zu bieten. Und viertens, er hat nicht bedacht, dass wir dreimal mehr Menschen haben. Wir könnten in Kürze zehn Millionen Männer unter Waffen stellen. Die Europäer haben zusammen genommen nicht einmal ein Viertel davon – und das, um einen Kontinent mit 28 Staaten zu verteidigen.“
Er schnaubte verächtlich.
„Unser Feind ist schwach, zerstritten, unvorbereitet und völlig ahnungslos. Unsere Vorbereitungen in Europa sind unbemerkt vonstattengegangen. Und wenn wir angreifen, werden wir mit ungeheurer Härte und Entschlossenheit zuschlagen. Wir werden sie direkt im Inneren, ohne Vorwarnung und ohne jede Skrupel vernichten.“
Er war jetzt richtig in Fahrt: „Der ehrwürdige General hat Sun Tzu angeführt. Das ist ehrenvoll und würdig. Auch ich möchte Sun Tzu zitieren, der sagte: ‚der wahrlich fähige Führer wird die Truppen des Feindes unterwandern, ohne gesehen zu werden und ohne Gewalt. Er nimmt Städte ein, ohne sie zu belagern. Er übernimmt Königreiche ohne endlose Feldzüge.‘ Genau DAS werden wir - in bester chinesischer Tradition - tun. Bevor sie ahnen, dass ihnen ein Krieg bevorsteht, werden sie bereits vernichtend geschlagen sein. Wir werden ihren Kontinent unbeschadet übernehmen, in ihren Häusern wohnen, auf ihren Straßen fahren und ihre saubere Luft atmen.“
Читать дальше