Obwohl ich jetzt – mit ein wenig Abstand – zugeben musste, dass ich seine Entscheidung verstand.
Kurz darauf hatte ich festgestellt, dass ich schwanger war. Und entgegen dem Wunsch meiner Eltern und all meinen widersprüchlichen Emotionen, hatte ich nicht abgetrieben. Daraufhin war der äußerst dünne Faden, der mich noch mit meiner Familie verbunden hatte, endgültig gerissen. Ja, es nagte an mir. Denn sie hatten mich in einer Zeit, in der ich ihre Unterstützung gebraucht hätte, von sich gestoßen. Weil ich mein Leben leben wollte und nicht ihres. Und natürlich, weil ich mit Kind nicht mehr die Schwiegertochter eines anderen schwerreichen Unternehmers oder gar Adligen werden würde.
Als hätte ich das jemals gewollt!
Ich kannte die meisten Söhne dieser Männer, die meine Eltern für mich als zukünftigen Partner geplant hatten. Derart eingebildete Gockel, die glaubten, etwas Besseres zu sein, als der Rest der Menschheit, wollte ich nicht an meiner Seite wissen. Und die wenigen, die wirklich in Ordnung waren – nun… verliebt hätte ich mich trotzdem in keinen. Aber ich wollte Romantik. Tiefe, echte Liebe.
Damals zumindest.
Jetzt tendierte ich dazu, keinen Mann mehr in mein Leben lassen. Auf den Schmerz einer Trennung konnte ich sehr gut verzichten. Aber hin und wieder … nur manchmal … hätte ich gern eine Schulter zum Anlehnen gehabt. Ab und an wünschte ich mir, dass Frederick eine männliche Bezugsperson hätte. Jemand, der ihm beibrachte, wie man einen Nagel in die Wand schlug, ein Loch bohrte, an einem Auto schraubte oder – für den Anfang – eine Seifenkiste baute.
„Mama, der Wecker.“ Freddy bohrte mir lachend einen Zeigefinger in den Arm. „Jawohl, junger Mann. Die Rettung der Plätzchen vor der totalen Vernichtung wird sofort in Angriff genommen.“ Ich salutierte, was Freddy noch lauter lachen ließ. Ich liebte sein Lachen. „Wir vernichten sie aber trotzdem, oder Mama?“ Ich kitzelte ihn kurz durch. „Und ob. Uns können sie nicht entkommen!“
Die Zeit in der Küche verging rasend schnell. Wir stachen Plätzchen aus und lachten, während Freddy dabei ununterbrochen redete. Einige seiner Fragen konnte ich nur mit sehr viel Fantasie beantworten. Bis Freddy endlich im Bett lag – nach einem sehr ausgiebigen Bad, das seiner Meinung nach noch endlos hätte dauern können – fiel ich ausgepowert auf die Couch. Es war anstrengend alleinerziehende Mutter, Hausfrau und berufstätig zu sein. Auch das hatte meinen Eltern nie gepasst. Weder, dass ich eine Ausbildung gemacht, noch, dass ich mir eine Anstellung gesucht hatte. Allerdings konnten sie meinen Chef nicht bestechen. Er war ein Vampir. Ein alter Vampir. Mit altem Geld und viel Macht.
Müde massierte ich meine leicht pochenden Schläfen und kuschelte mich an die Lehne. Nur fünf Minuten die Augen schließen.
Aus den fünf Minuten wurden fast zwei Stunden. Ächzend hievte ich mich von der Couch, was mein Rücken mit einem dumpfen Schmerz kritisierte. Ich streckte mich; mein Rücken knackte. An Tagen wie diesen fühlte ich mich nicht wie 29. Mehr wie 79. Aber das Chaos in der Küche nahm keine Rücksicht auf meine Wehwehchen. Die Plätzchen waren alle ausgekühlt und in kleine Blechdosen einsortiert. Ein paar davon würden wir morgen zusammen glasieren und verzieren. Wie ich Freddy kannte, würde er Punkt sechs vor meinem Bett stehen und nörgeln, wann wir endlich weitermachten.
Schon komisch: In der Woche würde er am liebsten gar nicht aufstehen. Am Wochenende war er dafür schon in aller Herr Gotts Frühe wach.
Ich wusch die wenigen Küchenutensilien gleich per Hand, säuberte die Anrichte, die Bleche, den Ofen; kehrte und wischte den Boden. Nach einer guten Stunde glänzte meine Küche wie neu – und roch nach Advent. Obwohl ich soweit war, beinah im Stehen einzuschlafen, setzte ich mir noch einen Kaffee an. Mit der Padmaschine ging das ruck-zuck.
Während ich an dem heißen Getränk nippte, dachte ich über den Plan für das Wochenende nach. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn Freddy beizeiten munter war. Nach dem gemeinsamen Frühstück könnten wir damit beginnen, die Weihnachtssachen aufzustellen. Schon jetzt freute ich mich auf seine leuchtenden Augen, wenn ichdie Figuren aus dem Papier auspackte und er sie dann ganz vorsichtig an den dafür vorgesehen Platz stellte. Am Nachmittag könnten wir die Plätzchen verzieren. Oder am Abend. Uns hetzte schließlich niemand. Mit einem Lächeln trank ich den Kaffee leer, stellte die Tasse in die Spüle und machte mich bettfertig.
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt
Der gestrige Samstag war ein wunderschöner Tag gewesen. Wir hatten die Wohnung geschmückt, den Weihnachtsbaum aufgestellt – einen aus Plastik, weil der mehrere Wochen stehen konnte, ohne Dreck zu machen – und die Plätzchen verziert. Nebenbei hatten wir Weihnachtsmusik gelauscht und am Nachmittag Märchen angeschaut. Heute würde es ganz bestimmt ein ebenso schöner Tag werden. Wir wollten auf den Weihnachtsmarkt gehen. Schließlich war der erste Advent. Auch wenn es sehr voll sein würde, wollte ich Frederick diesen Wunsch erfüllen.
Meine Stimmung fiel allerdings auf Kellerniveau, als es gegen halb 11 an der Tür klingelte. Mit Frederick im Schlepptau öffnete ich – und erstarrte. Roger, der Butler meiner Eltern, stand davor. Früher einmal hatte ich ihn geliebt. Jetzt … sagen wir so: In den letzten Jahren hatte er seinen Humor und seine Herzlichkeit gegen den sprichwörtlichen Stock im Arsch eingetauscht. „Guten Tag, Fräulein Delilah-Katarina.“ Ich hasste meinen Namen. Inbrünstig. „Hallo Roger. Was wollen Sie?“ Ich machte erst gar keinen Hehl daraus, dass er nicht willkommen war. „Eine Einladung Ihrer Eltern. Sie bestehen darauf, dass Sie sich diesen Tag für die Familie freihalten.“ Familie? Ein Witz. Die einzige Familie, die mir am Herzen lag, stand neben mir. „Der junge Master Frederick ist selbstredend ebenfalls eingeladen.“ Roger hielt mir einen Briefumschlag aus sehr schwerem, edlem Papier entgegen. Mit zusammen gebissenen Zähnen nahm ich ihn entgegen. „Noch was?“
„Ich wünsche Ihnen und dem jungen Master einen schönen Tag.“ Schön wäre er geblieben, wenn er nicht aufgetaucht wäre. „Gleichfalls.“, sagte ich und schloss die Tür. Den Brief hielt ich wie etwas Hochexplosives zwischen zwei Fingern. „Eine Party, Mama?“ So ähnlich. „Sieht so aus.“
„Au ja!“ Eifrig klatschte er in die Hände. „Mach auf, Mama.“ Ich wollte Fredericks Enthusiasmus nicht bremsen. Ich befürchtete jedoch, dass dies unweigerlich passieren würde. Manchmal war ich mir sicher, dass er für sein Alter in Hinsicht auf meine Eltern zu viel mitbekam. Dass er den Hass spürte und ihm lieber aus dem Weg ging. Manchmal hingegen kam es mir so vor, als hätte er noch Hoffnung. Als würden meine Eltern plötzlich einen Sinneswandel vollziehen und ihn lieben.
Ich wünschte mir das um nichts mehr auf der Welt. Doch ich kannte meine Eltern.
Leider.
„Na gut. Schauen wir mal nach.“ Am liebsten hätte ich laut geseufzt, als ich das förmliche Schreiben las. Als wäre ich eine Fremde. Aber bitte; was hatte ich erwartet? „Und? Was ist es? Wird es lustig?“ Es würde langweilig werden. Zudem fand ich diese Veranstaltungen irrsinnig. Alles nur Schein, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Die Kosten, die in solch eine Party gesteckt wurden, wären an anderen Stellen viel besser aufgehoben. Aber für die gehobene Gesellschaft musste es von allem nur das Beste geben. Der beste Wein, der teuerste Champagner, ein Häppchen Schnick, ein Häufchen Schnack. „Ich würde gern sagen ja, aber ich glaube nicht. Na komm. Wir wollten doch auf den Weihnachtsmarkt.“
„Jippieh! Kann ich die rote Jacke anziehen? Bitte?“
„Natürlich.“
„Und die roten Schuhe?“
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