»Desiderius!«
Schlitternd kam er vor der Treppe in der großen Halle zum Stehen und fuhr dann zu der Stimme des Königs herum. Er verneigte sich eilig, jedoch wenig elegant.
Der König kam lächelnd auf ihn zu. »Habt Ihr etwas vor?«
»Ähm ... nein, Majestät«, antwortete Desiderius und wandte sich ihm gänzlich zu.
»Auf ein Wort?«, fragte der König und nickte zur Tür, die zu den Wehrgängen führte.
Desiderius nickte einverstanden und folgte ihm, obwohl ihm unwohl dabei war, mit dem König allein zu sein. Er wusste nie so recht, wie er sich ihm gegenüber zu verhalten hatte.
Sie liefen Seite an Seite eine Weile stumm die Wehrgänge ab, die Hände hinter den Rücken verschränkt, wie es sich gehörte.
Nachdenklich blickte der König in die Weite, als suchte er Antworten auf Fragen, die in seinem Kopf herumspukten.
Nach einer Weile begann König Wexmell schließlich zu sprechen. »Euer Vater sagte mir, Ihr wärt unschlüssig was Euer Erbe anbelangt?«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Desiderius, ohne zu zögern. Weshalb sollte er etwas abstreiten, was so offensichtlich war?
Neugierig fragte der König. »Ihr wollt es nicht annehmen?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Eure Majestät«, gestand Desiderius. »Ein Teil von mir möchte es, aber der andere Teil ... Nun, ich bin niemand, der sich gerne bindet.«
Der König nickte nachdenklich, während er wieder in die Ferne starrte.
Grübelnd erwiderte er, ohne Desiderius anzusehen: »Ich kann verstehen, dass es aufregender ist, an nichts und niemanden gebunden zu sein. Frei zu sein. Nohva hat viele geheimnisvolle Ecken, viele Orte laden ein, erkundet zu werden. Abenteuer warten. Hinter jeder Kurve könnte eine neue Liebschaft warten. Freiheit. Verantwortungslos. Keinerlei Pflichten. Das klingt in den Augen eines jeden jungen Mannes gut. Es ist verlockend. Früher war ich genau wie Ihr, Desiderius. Ein Freigeist. Ich wollte nie König werden, weil die damit verbundenen Pflichten unsichtbare Fesseln sind.«
»Das glaube ich Euch gerne, Majestät«, erwiderte Desiderius mitleidvoll.
Der König warf ihm ein mildes Lächeln zu.
Interessiert fragte Desiderius: »Wieso seid Ihr dann König geworden?«
»Ich hatte keine Wahl und habe mein Schicksal angenommen«, antwortete der König schlicht. »Es war nicht immer leicht, das gebe ich zu. Oft habe ich aufgeben wollen, dachte, ein anderer würde einen besseren König abgeben als ich.«
Wie absurd, dachte Desiderius insgeheim. Seit Wexmell Airynn König war, hatte es in Nohva noch nie eine solange Friedensperiode gegeben. Er war derart diplomatisch, dass man ihn nur bewundern konnte. Konflikte zwischen den Völkern löste er nicht durch Gewalt. Er versuchte stets, eine Lösung zu finden, die keine Leben opferte. Deshalb hatte er auch so viele Feinde.
»Ihr seid ein guter König, Majestät«, sagte Desiderius zu ihm. »Und das behaupte ich nicht nur, weil ich Euch schmeicheln möchte.«
Der König schnaubte amüsiert. »Ich weiß. Ich kenne Euch, Ihr wart immer gnadenlos ehrlich, schon als kleiner Junge, und das schätze ich an Euch.«
»Danke, Majestät.«
»Deshalb ist es mir auch wichtig, dass jemand wie Ihr die Familie M’Shier weiterführt. Die Burg Eures Vaters ist eine wichtige Festung, hier werden in Kriegszeiten die besten Soldaten ausgebildet, und Eure Familie besitzt eine große Streitmacht. Euer Vater ist einer meiner engsten Vertrauten. Ein Freund, auf dessen Rat ich mich immer verlassen konnte.«
»Ich bin nicht mein Vater«, stellte Desiderius richtig.
»Stimmt.« Der König lächelte trotzdem. »Ihr seid mehr als das, Desiderius.«
Verwundert blickte er den König an. Dieser blieb nun auf den Wehrgängen stehen und drehte das Gesicht zum Horizont, den Desiderius am Morgen ebenso sehnsüchtig betrachtet hatte.
»Ihr habt etwas, was keiner von uns hat, und was wir schon sehr bald brauchen werden«, sprach der König auf ihn ein. »Ihr würdet es vermutlich Straßenschläue nennen, aber ich nenne es gerissene Taktik. Ihr kennt Strategien, von denen die hohen Heerführer nur träumen können. Und wir brauchen vielleicht schon bald jemand im Kampf gegen unsere Feinde, der weiß, wie man sie überlisten kann, ohne große Schlachten in Kauf zu nehmen.«
»Erwartet Ihr einen Krieg, Majestät?«, fragte Desiderius befürchtend.
Der König sah ihn nicht an, aber seine Miene sprach Bände. Er berichtete: »Das Gebirgsvolk und die Wüstenbewohner scheinen eine Allianz gegen mich gebildet zu haben. Sie fordern, dass ich als König zurücktrete. Gleichzeitig säen sie in den Ohren der Menschenvölker Misstrauen gegen uns Luzianer. Sie nennen uns Ketzer. Ungeheuer. Dämonen. Sie wollen, dass wir die Götter anbeten und uns als Herrscher zurückziehen. Vielleicht haben sie recht und wir, insbesondere ich als König, sollten mehr auf die Religionen der Völker eingehen, aber ich kann und werde mein Volk nicht dazu zwingen.«
»Sie wollen die Macht an sich reißen«, wusste Desiderius und musste wütende Flüche unterdrücken. Lieber sähe er Nohva brennen, als in den Händen eines Menschenkönigs. Nur gut, dass er nicht König war, er hätte längst Krieg begonnen.
»Ich brauche Euch als Berater«, sagte der König schließlich ernst und blickte Desiderius ins Gesicht. »Erst schlug ich Eurem Vater vor, Euch mit in die Hauptstadt zu nehmen. Bellzazar sagte, das wäre die beste Lösung. Ihr hättet mit ihm zusammen eine Strategie entwickeln können, die diesen Konflikt schon im Keim erstickt.«
»Aber?«, hakte Desiderius nach. Sein Herz schlug wild. Die Hauptstadt? Dargard? Er hätte seine beiden Arme abgetrennt, um mit dem König gehen zu dürfen.
»Aber«, seufzte der König, »Euer Vater wollte Euch nicht gehen lassen, nachdem ich ihm vor Augen geführt habe, welche Qualitäten Ihr vorweist.«
»Von hier aus werde ich Euch auch nicht helfen können«, warf Desiderius ein.
»Das ist wahr«, stimmte der König zu. »Aber hier seid Ihr sehr viel leichter zu erreichen. Wenn Ihr auf Reisen seid, dauert es Wochen, Schriftkontakt mit Euch aufzunehmen. Seid Ihr jedoch hier, könnt Ihr binnen einer Woche in der Hauptstadt sein.«
»Das könnte schon zu spät sein«, murmelte Desiderius.
Der König ignorierte das. »Außerdem will ich sicher sein, dass mein Sohn, wenn ich einst nicht mehr da bin, einen treuen und fähigen Berater zur Verfügung hat, an den er sich wenden kann. Nichts gegen Euren Bruder Arerius, aber ich sähe die Burg ungern in seinen Händen. Er würde die Festung nicht zu schätzen wissen.«
Desiderius wandte sich ab und nun war es an ihm, sehnsüchtig in die Ferne zu blicken.
»Sie ist eine Fessel«, hörte Desiderius sich über die Burg sagen. »Sie ist ein Gefängnis.«
Der König nickte seinerseits. »Ein Gefängnis, für das man sich selbst entscheidet.«
Nach einem Moment sagte der König wissend zu ihm: »Wenn es die Hochzeit ist, die Euch Sorgen bereitet, lasst Euch gesagt sein, dass ich das nicht von Euch erwarte. Ich wäre froh, eine meiner Töchter in Eurer Obhut zu lassen, aber nicht, wenn Euch das unglücklich macht.«
»Eure Töchter sind wundervoll und wunderschön, Euer Gnaden«, erwiderte Desiderius. »Aber wie ich bereits sagte, binde ich mich nicht. Ich will keine von Ihnen unglücklich machen. Es liegt an mir, nicht an Euren Töchtern.«
Der König nickte. »Nun, aber würdet Ihr Euch dazu durchringen, Euch an diese Burg zubinden, um Eurem König und Eurem Volk einen Gefallen zu tun?«
Desiderius starrte vor sich hin. Er erwiderte nichts.
Die schwere Hand des Königs landete auf seiner Schulter und drückte sie kurz mitfühlend. Ohne eine Antwort bekommen zu haben, wandte sich der König ab.
Desiderius sah ihm nach und wollte wissen: »Wieso glaubt Ihr, ich wäre der Richtige dafür?«
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