Der Hauptteil dieses Kommentars hat vier Teile:
1. Die Bedeutung des Titels
2. Die Ehrerbietung der Übersetzer
3. Die Erklärung der Bedeutung des Textes
4. Die Bedeutung der abschließenden Bemerkungen
Der ursprüngliche Sanskrittitel dieses Textes ist Bodhisattvacharyavatara. Die tibetische Übersetzung lautet Byang chub sems dpai spyod pa la 'jug pa. Der deutsche Titel ist Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas.
Es ist bei allen Werken, die aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt werden, üblich, den ursprünglichen Titel voranzustellen. Warum ist dies notwendig? Das hat zwei Gründe: Erstens gilt Sanskrit als die erhabenste aller Sprachen, und zudem war es die Sprache, in der Buddha lehrte. Deshalb hilft die Sanskritüberschrift, Prägungen dieser heiligen Sprache in das Geisteskontinuum der Leser zu setzen. Zweitens wird der Titel in der ursprünglichen Sprache aufgeführt, damit wir uns an die große Güte der Übersetzer erinnern, die den Text aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt haben. Nur durch das Mitgefühl und das sorgfältige Bemühen dieser Übersetzer hatten die Tibeter und später die westliche Welt die Möglichkeit, die tiefgründigen Methoden dieser heiligen Schrift zu studieren, darüber zu meditieren und sie zu praktizieren.
DIE EHRERBIETUNG DER ÜBERSETZER
Bevor sie ihre Arbeit an diesem Text begannen, brachten die ursprünglichen Übersetzer allen Buddhas und Bodhisattvas ihre Verehrung und Huldigung dar, um Hindernisse zu beseitigen und die Fertigstellung ihrer Arbeit zu gewährleisten.
Diese Art der Ehrerbietung stimmt mit der Tradition überein, die von den großen Dharma-Königen Tibets festgelegt wurde. Diese Tradition verlangte, daß die Ehrerbietung der Übersetzer deutlich machen sollte, zu welchem «Korb» (Skrt. Pitaka) der Unterweisungen Buddhas der ursprüngliche Sanskrittext gehörte. Die Ehrerbietung zu Beginn eines Textes, der zum Korb der Vinaya gehörte - der in erster Linie die Schulung in Höherer Moralischer Disziplin behandelt -‚ mußte deshalb an den Allwissenden gerichtet sein. Wenn ein Text zum Sutra-Pitaka gehörte - Texte, die in erster Linie die Schulung in Höherer Konzentration behandeln -‚ dann mußte die Ehrerbietung an alle Buddhas und Bodhisattvas gerichtet sein. Gehörte ein Text aber zum dritten Korb, dem Abhidharma-Pitaka, der in erster Linie die Schulung in Höherer Weisheit erklärt, dann mußte die Ehrerbietung an den jugendlichen Manjushri, die Verkörperung der erleuchteten Weisheit, gerichtet sein. Auf diese Weise kann man durch das Lesen der Ehrerbietung leicht feststellen, zu welcher der drei Kategorien der Schriften der jeweilige Text gehört. Im vorliegenden Text ist die Ehrerbietung an die Buddhas und Bodhisattvas gerichtet; deshalb gehört der Bodhisattvacharyavatara zum Sutra-Pitaka, d.h. zum Korb der Vorträge, der in erster Linie die meditative Konzentration behandelt.
1. Kapitel
Der Nutzen von Bodhichitta
DIE ERKLÄRUNG DER BEDEUTUNG DES TEXTES
Der Hauptteil des Textes hat zwei Teile:
1. Die vorbereitende Erklärung
2. Die eigentliche Erklärung der Stufen des Pfades zur Erleuchtung
DIE VORBEREITENDE ERKLÄRUNG
Die vorbereitende Erklärung hat drei Teile:
1. Die Verehrung
2. Das Versprechen, den Text zu verfassen
3. Der Grund, den Text zu verfassen
[1a] Der eigentliche Text beginnt mit der Ehrerbietung oder Verbeugung Shantidevas vor den Buddhas (wörtlich vor den Sugatas: denjenigen, die zur Glückseligkeit gegangen sind), vor den edlen Söhnen und Töchtern sowie vor allen anderen heiligen Objekten der Verehrung. Mit dieser Verbeugung drückt Shantideva seinen Respekt für die drei kostbaren und erhabenen buddhistischen Zufluchtsobjekte aus - Buddha, Dharma und Sangha. Eine ausführliche Erklärung dieser Drei Juwelen wird weiter unten im Kommentar gegeben. An dieser Stelle genügt folgende Erklärung: Buddha ist ein vollständig erleuchtetes Wesen, Dharma ist die spirituelle Lehre, die solch ein Wesen weitergibt, um die Lebewesen aus Leiden und Unzufriedenheit zum vorübergehenden und endgültigen Glück zu führen. Sangha ist die Gemeinschaft derjenigen, die dieser erleuchtenden Lehre folgen.
Warum ist es notwendig, zu diesen drei Objekten Zuflucht zu nehmen? Wenn ein kranker Mensch gesund werden will, muß er sich auf einen geschickten Arzt, wirksame Medikamente sowie freundliche und aufmerksame Krankenschwestern verlassen. Auf die gleiche Weise sind alle fühlenden Wesen, die im Teufelskreis Samsaras gefangen sind, von der Krankheit ihrer Verblendungen befallen, da sie nichts gefunden haben, zu dem sie wirklich Zuflucht nehmen können. Nur indem sie sich auf den vollkommenen Arzt - Buddha -‚ auf das Dharma-Heilmittel und die Sangha-Krankenschwestern verlassen, werden sie von ihrer Krankheit geheilt. Wenn wir unsere Unzufriedenheit und unsere Leiden beenden wollen, müssen wir deshalb diese drei kostbaren und erhabenen Juwelen entdecken und uns ihnen anvertrauen.
Am Anfang des ersten Verses erweist Shantideva den Drei Juwelen seine Ehrerbietung, um die Hindernisse zu beseitigen, die beim Verfassen des Textes entstehen könnten. Er verbeugt sich zuerst vor den Sugatas, den Buddhas, die den Wahrheitskörper eines erleuchteten Wesens (Skrt. Dharmakaya) sowie alle Dharma-Juwelen besitzen. Dann erweist er seine Ehrerbietung dem Sangha, indem er sich vor den edlen Söhnen und Töchtern Buddhas verbeugt. Zum Schluß erweist er seine Ehrerbietung allen Äbten und Lehrern sowie allen anderen Wesen, die der Verehrung würdig sind. Dies beschließt seine Verehrung.
DAS VERSPRECHEN, DEN TEXT ZU VERFASSEN
[1b] Als nächstes kommt das traditionelle Versprechen, den Text zu verfassen. Es war üblich, daß die Autoren zu Beginn eines Werkes ein Versprechen abgaben, das als kurze Einleitung zum Thema diente, das behandelt werden sollte. In diesem Text möchte Shantideva eine Synthese aller Pfade vorstellen, die zur Erlangung der höchsten Erleuchtung, der makellosen Erfüllung der Buddhaschaft, führen. Das ist die Bedeutung des Bodhisattvacharyavatara. Denn es ist nur durch die Lebensweise eines Bodhisattvas möglich, d.h. wenn man sich auf die Handlungen der Söhne und Töchter der Sugatas einläßt, dieses höchste Ziel zu erreichen.
Zwei Vorteile entstehen durch das Studium dieses kostbaren Textes. Der vorübergehende Nutzen besteht darin, daß man ein Verständnis des gesamten Pfades zur Erleuchtung gewinnt und dadurch fähig wird, diesen Pfad zu praktizieren. Der endgültige Nutzen besteht darin, daß die makellose Erfüllung der Buddhaschaft durch das Vertrauen in diesen Text tatsächlich im eigenen Bewußtsein realisiert werden kann.
Der endgültige Nutzen hängt vom vorübergehenden Nutzen ab. Der vorübergehende Nutzen hängt von der Bedeutung des Textes ab, der seinerseits vom Text selbst abhängt. Diese Abhängigkeit wird als Beziehung des Textes bezeichnet. Deshalb weist im ersten Vers Shantidevas Versprechen, den Text zu verfassen, darauf hin, daß sein Text in Übereinstimmung mit den Schriften Buddhas verfaßt wurde und die vier Qualitäten der Bedeutung, des vorübergehenden Nutzens, des endgültigen Nutzens und der Beziehung enthält.
DER GRUND, DEN TEXT ZU VERFASSEN
[2] Shantideva erklärt als nächstes, was seine Gründe sind, den Text zu verfassen. Er gibt zu, daß nichts darin enthalten sein werde, was nicht schon früher einmal erläutert worden sei. Da er keine besonderen Fähigkeiten in der Kunst der Rhetorik oder Poesie besitze, habe er auch nicht die Absicht, denjenigen zu helfen, die die Unterweisungen Buddhas schon verstanden hätten. Er habe seinen Text vielmehr deshalb geschrieben, damit sich seine eigene Tugend vergrößere, sein eigenes Verständnis der Schriften nicht abnehme und sein eigener Geist mit den eben erklärten Realisationen der Schriften besser vertraut würde.
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