Wieso ist er eigentlich schon wach? Sicherlich hat er nur wenige Stunden geschlafen. Kurz überlegt er, ob er sich wieder hinlegen sollte, als ihm sein Notebook ins Auge springt. Stöhnend setzt er sich an den Schreibtisch. Soll er? Nach längerem Überlegen loggt er sich ein und sieht, dass sie ihm gestern die lang ersehnte Nachricht geschickt hatte. Bange öffnet er sie und hofft, dass nichts Schlimmes darinsteht.
›Hallo Chris,
es tut mir unendlich leid, dass ich dir nicht geantwortet hatte. Ich hatte leider mehr zu tun als gedacht.
Womit wir beim Thema wären: Ja, ich besitze ein Geschäft. Zusammen mit Sonja betreibe ich ein kleines Büchercafé. Leider hatte meine Angestellte einen Unfall und ich kam zu gar nichts mehr. Ich bin jeden Abend nur heimgekommen, um todmüde ins Bett zu fallen. Ich hoffe, du verzeihst mir! Bitte, bitte, bitte …
Wie ist es dir zwischenzeitlich ergangen?
Sehr gerne würde ich mit dir tanzen. Du weißt, was man so sagt?
Dann bist du also in der Nähe? Hm, vielleicht laufe ich dir ja mal über den Weg?
Liebe Grüße Lilith
PS: Hast du in der letzten Woche an mich gedacht?‹
Schlagartig ist er hellwach und nüchtern. Beinahe erleichtert liest er noch einmal ihren Text. Sie hatte tatsächlich nur viel zu tun! Verblüfft stellt er fest, dass ihm eine Last vom Herzen fällt. Mann, war er bescheuert! Nun bezweifelt er, ob er nicht doch ein Teenie ist.
Aber was ist mit diesem Büchercafé? Das ist wirklich sehr merkwürdig, denn genau davon hatte sie, nein diese Traumgestalt ihm im Traum berichtet! Zufall? Es muss ein Zufall sein, alles andere wäre utopisch. Plötzlich erinnert er sich an weitere Details aus diesem Traum. Schmunzelnd schließt er die Augen, denn sofort schießen die Bilder in seinen Kopf. Ein wohliges Gefühl macht sich breit. Rasch schüttelt er jeden weiteren Gedankengang ab. Verdammt, das war nur ein Traum!
Er lehnt sich nach vorn und liest nochmals ihre letzten Zeilen. In dem Moment, als er ihr darauf antworten will, blinkt auf einmal ein Chatfenster auf. Sie ist tatsächlich online und hat ihn angeschrieben.
»Hallo Chris, bist du mir böse?«
»Hallo Lilith, nein. Warum sollte ich? Ich habe dich nur vermisst.« Da war es heraus. Viel zu schnell hat er auf Absenden geklickt. Nervös reibt er sich die Finger. Die Sekunden verstreichen – die ihm wie Minuten vorkommen.
»Ich habe dich auch vermisst. Es tut mir so leid!«
Er hätte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. »Es braucht dir nicht leidzutun, wirklich! Dafür schuldest du mir aber nun einen Tanz.«
»Gern.«
»Ich nehme dich beim Wort!«
»Das kannst du tun. Wie geht es dir? Was hast du die letzte Woche gemacht?«
Aufgeregt schildert er ihr von seiner Scheidung und dass er mit den anderen ab Sonntag für mindestens eine Woche unterwegs sein wird.
»Dann macht ihr also Männerurlaub. Das stell ich mir chaotisch vor, aber das wird bestimmt spaßig.«
Schmunzelnd berichtet er ihr, dass es die Abschiedsfeier werden wird. Sie solle aber niemandem etwas davon erzählen. Er würde ihr voll und ganz vertrauen. Das könne er auch tun, schreibt sie zurück. Doch plötzlich verabschiedet sie sich mit den Worten: »Sorry, aber ich muss los, ich habe die Zeit total vergessen.«
Schnell wünscht er ihr einen schönen Tag und fort ist sie. Gerade als er das Notebook wieder zuklappen will, fällt ihm auf, dass er ihre Nachricht noch gar nicht beantwortet hatte, auch im Chat nicht.
Schnell liest er sich ihren Text nochmals durch und beginnt zu tippen:
›Hallo Lilith,
du oder ihr habt ein Büchercafé? Das ist merkwürdig, denn von so etwas habe ich letztens geträumt. Aber das erzähle ich dir gern ein anderes Mal. Darum kennst du dich mit Büchern aus, nun wird mir einiges klar.
Es kann gut sein, dass wir uns mal über den Weg laufen. Und dann nehme ich dich beim Wort und tanze mit dir den Strand entlang.
Ich bin sehr froh, dass du dich wieder gemeldet hast. Ich habe nämlich wirklich deine Nachrichten vermisst … und dich …
Liebe Grüße Chris
PS: Jeden Tag!‹
Bereits jetzt ist er auf ihre Reaktion gespannt. Im Anschluss sieht er seine E-Mails durch, wieder kein neues Hausangebot. Ihn wurmt es, dass der Makler anscheinend nicht wirklich gewillt ist, für ihn ein passendes Objekt zu finden. Zumindest kommt es ihm so vor. Er beschließt, dass er, bevor sie zu der Kletterpartie aufbrechen, einem anderen Büro den Auftrag erteilen wird, schließlich kann er nicht ewig in Normans Haus wohnen bleiben.
Die Müdigkeit übermannt ihn mit einem Mal und er legt sich noch einmal hin. Kurz darauf schläft er tatsächlich wieder ein.

D
ie Schuldgefühle plagten Lilith, da sie ihm nicht mehr antwortete. Gern hätte sie mit Sonja darüber gesprochen, aber sie konnte und wollte auch nicht.
Seit Montag ging alles drunter und drüber. Kaum hatte Laura wie geplant frei, fiel prompt die gesamte Ostküste über sie herein, zumindest hatte sie das Gefühl, dass es so war. Dementsprechend musste sie länger und mehr arbeiten, da sie es in der Zeit trotz tatkräftiger Unterstützung von Mia nicht schaffte, alle Bestellungen abzuarbeiten.
Dann stürzte ihre Angestellte am Mittwoch auf dem Weg vom Kindergarten zum Büchercafé unglücklich vom Fahrrad und ist seitdem ans Bett gefesselt. Sofort fuhr sie am folgenden Morgen ins Krankenhaus, um sie zu besuchen. Ihr ging es soweit ganz gut, abgesehen von den Schürfwunden, den Schmerzen und Zerrungen. Sie erfuhr, dass die liebe Seele zumindest ab Freitag wieder nach Hause kann, um sich dort zu erholen.
Hinzu kam, dass Lilith ihr Gewissen quälte. Je öfter sie sich mit Chris hin und her schrieb, desto mehr erinnerte sie sich an diesen verdammten Traum. Und plötzlich war er wieder detailreicher denn je präsent. Wie sollte sie ihm das erklären? Sollte sie es ihn überhaupt darüber aufklären?
Donnerstagabend kam sie endlich einmal dazu, seine letzte Nachricht zu lesen. Er fragte nach dem Geschäft. Sie hatte sich tatsächlich verplappert! Zu dumm! Was sollte sie nun machen? Auf ewig konnte sie es ihm nicht verheimlichen. Anfangs war sie froh, dass er dachte, er kenne die beiden von einem vorangegangenen Konzert. Doch dass sie sich so intensiv schreiben würden, damit hatte sie damals nicht gerechnet. Letztendlich hoffte sie, dass er den Traum nach und nach verdrängte und somit vergaß.
Tagelang überlegte sie verzweifelt, was sie tun solle. Sonja wollte sie nicht in ihr Dilemma mit einbeziehen, das musste sie selbst ausbaden. Am Sonntag entschloss sie sich dann dazu, ihm einfach die Tatsachen zu schreiben. Eventuell hat er nicht alles erfasst? Vielleicht hatte sie es ja doch irgendwie kontrollieren können? Aber Fakt war, dass sie es nie herausfinden würde, wenn sie ihm nicht schrieb.
Montagmorgens ging sie vor der Arbeit aus online und sie bemerkte, dass er gerade anwesend war. Diese Gelegenheit musste sie ergreifen. Schnell schrieb sie ihn an. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, aber er antwortete ihr tatsächlich. Er war ihr nicht böse, er meinte sogar, dass er sie vermisst hätte. Gut, dass er sie in diesem Moment nicht sehen konnte, denn sie wurde knallrot.
Mit keiner Silbe erwähnte er das Thema Büchercafé, worüber sie mehr als froh war. Dafür berichtete er ihr von Andys Junggesellenabschied. Sie wusste nicht einmal, dass der Bassist verlobt war. Da hatten sie alle verdammt gut dichtgehalten! Und nun wird er auch noch in wenigen Wochen heiraten. Lilith musste Chris schwören, dass sie es keinem weitererzählen würde. Das konnte sie ihm reinen Gewissens versprechen. Nicht einmal Sonja würde sie davon berichten, das war klar.
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