Als sich nach einigen Minuten die letzten Gäste verabschieden, räumt Tim auf und seine Chefin macht die Kassenabrechnung. Indessen geht sie zu Laura hinüber, die bereits fertig ist.
»Also, ich bin morgen kurz vor 12 Uhr hier. Du kannst gern zu Hause bleiben«, sagt diese zu Lilith.
Verdutzt schaut sie ihre Angestellte an. »Nein, nein. Ich komme morgen gegen 14 Uhr wie abgemacht und du wirst dann auch wieder gehen. Du warst nun sieben Tage am Stück im Geschäft, das kann ich langsam nicht mehr verantworten!«
»Ach, wer soll denn was dagegen sagen? Ich bin doch froh, wenn ich hier sein kann. Außerdem war ich heute gerade einmal eine Stunde da. Dafür habe ich Montag und Dienstag frei«, erwidert Laura.
»Stimmt, ja. Vergiss nicht, am Mittwoch hattest du irgendetwas mit dem Kindergarten geplant.«
»Ja, das habe ich nicht vergessen. Ich komme am Mittwoch dann am Nachmittag her. Dann euch noch viel Spaß, wir sehen uns ja später!« Winkend verabschiedet sie sich.
Kaum zu Hause angekommen, schnappt sie sich das Notebook und setzt sich wieder hinaus auf die Terrasse. Hier kann sie zumindest rauchen. Eine private Nachricht. Schnell klickt sie darauf, um zu sehen, wer ihr geschrieben hat. Er hat ihr tatsächlich geantwortet!
Nervös an der Zigarette ziehend liest sie seinen Text, den er ihr über sein privates Profil geschickt hat. Beim Postskriptum muss sie unwillkürlich schmunzeln. Also hatten sie die beiden doch gesehen. Umgehend klickt sie auf seinen persönlichen Account. Wie zu erwarten, gibt es nicht allzu viel zu lesen. Da entdeckt sie ein Foto von ihm und seiner Noch-Ehefrau. Sie waren schon ein süßes Pärchen, schießt es ihr durch den Kopf. Damals fand sie es wirklich schade, als die beiden sich trennten. Dann erspäht sie bekannte Gesichter in seiner Freundesliste. Die restlichen Bandmitglieder sind ebenfalls privat vertreten, desgleichen unter anderen Namen.
Erstaunt bemerkt sie, dass er ihr eine Freundschaftsanfrage geschickt hat. Natürlich nimmt sie an, aber auch jetzt ist nicht bedeutend mehr in seinem Profil zu lesen. Dafür kann sie nun seine Vorlieben einsehen. Tatsächlich, er klettert! Woher hatte sie das gewusst? Früher ist er gerudert, klar … Oxford! Und er schwimmt auch heute noch. Das stimmt also ebenfalls mit dem Traum überein.
Okay, bei der Musik liegen sie etwas auseinander, aber bei den Filmen … Sie hätten für Stunden ein Gesprächsthema! Nein, mehrere! Neugierig liest sie die Liste seiner Lieblingsautoren. Anerkennend nickt sie in den Bildschirm. Dieser Typ ist der absolute Oberknaller und völlig unerreichbar. Und trotzdem schreibt er ihr.
Angestrengt überlegt sie, was sie ihm antworten soll.
›Hallo Chris,
schön so bald von dir zu lesen. Ja, wir sind gut zu Hause angekommen, die Fahrt verging wie im Flug, da wir uns so viel zu erzählen hatten. Wie geht es dir? Wo bist du derzeit und was machst du, falls ich das fragen darf.
Liebe Grüße Lilith
PS: Deine Begeisterung für Bücher und Filme hat mein Interesse geweckt.‹
Zwar etwas frech, aber was solls. Lilith ist sehr gespannt ob und was er darauf antworten wird. Nun muss sie sich aber fertigmachen, sonst zieht sie den Unmut der anderen auf sich, weil sie sie länger warten lässt als geplant. Aufgeregt klappt sie das Notebook zu und hastet nach oben, um sich umzuziehen.
Vor der Fahrt in den Club treffen Neil und Mia gewohnheitsmäßig bei ihr ein. Wie immer ist die Begrüßung sehr herzlich. »Na, wie war das Konzert? Hast du ihn endlich persönlich kennengelernt? Wie ist er? Sieht er real auch so toll aus …«, stochert Mia neugierig, ohne einmal Luft zu holen, während sie zu Sonjas Haus hinüber gehen.
In den letzten fünf Jahren ist ihr die gute Seele eine sehr liebe Freundin und Vertraute geworden. Die stets hochgesteckten, schwarz gefärbten Haare lassen sie elegant wirken. Ihre warmen braunen Augen haben etwas Beruhigendes, aber auch etwas Beseeltes. Seit einigen Jahren kennt sie Liliths und Sonjas Geheimnis ebenso wie ihr vier Jahre älterer Freund Neil, der gerade genauso gespannt auf ihre Antwort wartet.
Ohne Zögern erzählt sie alles, auch von dem Aufeinandertreffen nach dem Konzert. Mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt sie den schriftlichen Kontakt zu dem Sänger.
»Oh nein! Du warst völlig durch den Wind!«, ruft die klassische Schönheit glucksend und drückt sie an sich.
Dagegen schüttelt ihr Partner grinsend den Kopf. »Mädchen, da hättest du ruhig mal selbstbewusster sein sollen. Ich glaube, dass er nicht abgeneigt gewesen wäre.«
Achselzuckend klingelt sie an der Haustür und lässt die beiden in ihrem Irrglauben. Sobald Sonja herauskommt und sie sich begrüßt haben, steigen sie in Liliths Auto und fahren los. Wie sollte es auch anders sein, ist das einzige Gesprächsthema auf der knapp halbstündigen Fahrt das Konzert, die Band und der Sänger. Als sie in Lowestoft vor dem Club parkt, sieht sie bereits Ethan und Dylan vor dem Gebäude warten. Die anderen steigen schon aus, gehen vor, um die Jungs zu begrüßen. Verdammt! Seufzend wirft sie die Autotür ins Schloss und geht etwas angespannt auf die beiden zu. Ethan ist ihre große, verflossene Liebe.
Vor über vier Jahren trafen sie sich das erste Mal in ebendiesem Club. Mit seinen stechend blauen Augen schaute er sie damals beim Tanzen nahezu herausfordernd an und sie war sofort hin und weg. Augenblicklich hatte sie sich Hals über Kopf in den seinerzeit 26-jährigen, schwarzhaarigen Schönling verschossen. Seine Eleganz und sein Charme ließen sie all ihre Prinzipien über Bord werfen, denn noch in derselben Nacht sind sie in ihrem Bett gelandet.
Er war alles für sie, so etwas hatte sie zuvor noch nie erlebt. Sie war ihm vollkommen verfallen und sie wollte es auch gar nicht anders. Kurze Zeit hatten sie eine sehr intensive und aufregende Liaison, bis er nach einigen Monaten in die USA ging, um dort weiter zu studieren. Beide machten sich nichts vor, keine Beziehung würde solch eine Entfernung über Jahre überstehen und so trennten sie sich bewusst nachts zuvor. Es war die sinnlichste und leidenschaftlichste Nacht ihres Lebens.
Wie enorm hatte sie danach gelitten! Zu sehr hatte sie sich emotional auf ihn eingelassen. Der Trennungsschmerz währte länger als die Beziehung selbst. Es machte sie dermaßen fertig, dass sie zu kaum etwas fähig war. Ihre Freunde fingen sie in den folgenden Monaten immer wieder auf, umsorgten sie, schleiften sie regelrecht aus dem Haus, in dem sie sich richtiggehend verbarrikadierte. Lange Zeit konnte sie nicht einmal mehr in den geliebten Club gehen. Die verschiedensten Dinge erinnerten sie einfach zu sehr an ihn. Weshalb sie sich meistens bei Mia und Neil traf, oder sie gingen in Bars. Hauptsache, sie kam mal raus und wurde abgelenkt.
Nach knapp einem Jahr hatte sie ihn schließlich überwunden und pflegte nach und nach per E-Mail-Kontakt zu ihm. So erfuhr sie auch von ihm, dass er in Yale eine Affäre hatte, anders konnte man das nicht betiteln. Trotzdem war er todunglücklich, dass merkte sie, als sie miteinander telefonierten. Dazu kannte sie ihn zu gut.
Vor einem Dreivierteljahr kehrte er zurück und meldete sich auch alsbald bei ihr. Kurzzeitig zog sie eine erneute Beziehung in Erwägung. Denn das Kribbeln war noch eine Zeit lang zu spüren, wenn sie ihn sah. Doch nach einigen Wochen war auch dies wieder vorüber und sie wurden gute Freunde. Ethan ließ vor einiger Zeit verlauten, dass er eine neue Flamme hätte. Lilith hat sie bis heute nicht persönlich kennengelernt, da diese nicht in ihren Kreisen verkehrt und anscheinend die Freunde nicht treffen möchte.
Noch so manches Mal erinnert sie sich wohlwollend an diese eine Nacht, seit der sie auch nie wieder das Bett mit einem anderen Mann geteilt hatte. Es lag aber durchaus nicht an fehlenden Verehrern oder an einem Mangel an Gelegenheiten, davon gab es in den letzten Jahren so einige. Sie wollte schlicht und einfach keinen Mann mehr an sich heranlassen. Auch nicht für ein kurzes Bettgeflüster. Viel zu sehr fürchtete sie eine erneute Enttäuschung und den dazugehörigen Schmerz. Doch sie war nie unglücklich über diesen Umstand, sie fand sich damit ab und machte das Beste daraus. Bis heute bereut sie diesen Schritt nicht. Ein einziger Typ hatte es ihr vor einigen Jahren angetan, allerdings zeigte er an Sonja mehr Interesse. Leider!
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