Sein vertrauensvolles Gespräch mit der Natur wurde schlagartig beendet. Er lernte Mächte kennen, die ihn grausam misshandelten. Er konnte nicht durch Angriff, nicht durch Flucht, nicht durch Verhandeln Einfluss auf sie ausüben, wie es der Prophet Amos anschaulich schildert. Die Ohnmacht zeitigte Angst und Wut, Erstarrung und Panik. Die aussichtslose Erregung verdichtete sich zu gesammeltem Ingrimm und schrie nach Erlösung von der maßlosen Furcht.
Als nach etwa vierhundert Jahren am Himmel Regelmäßigkeit und Ruhe einkehrten und Kataklysmen zu seltenen Ausnahmen wurden, mussten die Überlebenden ihre Lebensverhältnisse neu einrichten. Die übermächtigen Kräfte blieben außerhalb der Reichweite menschlichen Handelns, aber sie mussten auf verstehbare und einleuchtende Weise erklärt werden, um dem Tohuwabohu des Sinns ein Ende zu machen. Es bedurfte großer Erzählungen, welche die himmlischen Desaster erläuterten. Nachdem vor der Sintflut die Suche nach dem Göttlichen wesentlich auf oder in der Erde verortet war, wurde jetzt der Himmelsraum zum Wirkkreis göttlichen Handelns bestimmt. Die Naturerscheinungen bekamen Götterpersonen zugeordnet, und ihre entsetzlichen Auswirkungen wurden als Folge eines Agon, eines Kampfes zwischen den Göttern, gedeutet. Kinder, die sie sind, begannen die Menschen nach diesem Grundmuster ihre Erfahrungen nachzuspielen, um abzulasten und sich zu Herren ihrer Lage zu machen. Sie wiederholten schlimme Begebnisse der Sintflutzeit, indem sie in ausgeklügelten Trauerspielen die Streithandlungen der Götter sinnlich abzubilden suchten. Ein Zeremoniell des Tötens und Schlachtens entstand. Das Blutopfer trat in die Mitte der Religion.
Angetan mit Sternenmasken und Hörnerkronen, gebeutelt von starken Abführmitteln, mit Ruß und Asche eingeschmiert, mit Phallusdrohungen und Haarverbrennung, wurde unter Geschrei, Lärm und Gepolter das Schlachtfest eines bekränzten und geschmückten Götterdarstellers gefeiert. Aus seinem hingegebenen Fleisch und Blut erwuchsen dem Beiwohnenden Erlösung und Heilsversprechen.
Man hatte zum Beispiel beobachtet, wie ein kleinerer Himmelskörper sich scheinbar ohne Hilfe eines dritten von einem größeren zu lösen schien. Diesen Vorgang deutete man als jungfräuliche Geburt aus einer Muttergöttin, meist der Venus. Für den vermeintlichen Sohn gab es diverse Zuschreibungen. Seine Aufgabe war es, die kosmischen Zerstörungskräfte zu bändigen. Der von einer Jungfrau geborene Erlöser ordinierte die Bahnen der Gestirne neu und verhinderte künftige Sintfluten. Der Preis dafür war sein Tod. Allerdings lediglich ein vorläufiger, weil er nach dem Abstieg ins Schattenreich der Verblichenen auferstehen konnte und musste, um sich wieder mit seiner Mutter zu vereinen. Die Vereinigung konnte problematisch werden, wie eine weit verbreitete Sage zeigte, in der eine Himmelskönigin ihren jungen Himmelskörpergott um seinen Schweif brachte. Der Heil bringende Sohn musste immer wieder vergehen und auferstehen, damit die Gläubigen leben konnten. Der Mythos von der Jungfrau und ihrem Sternenkind, das durch seine Selbstaufopferung die Welt rettet, wurde zum beliebtesten im Zweistromland, und Daniel hatte all seine Geistesgaben komponieren müssen, um ihn zu durchschauen.
Die unreifen Kinder machten durch ihre blutigen Spiele aus dem Passiv des Erleidens ein Aktiv der Bewältigung. Sie wollten durch Opfer gefallen, um nicht zum Opfer zu fallen. Die Schlachtopfer hatten die Hinschlachtung der Völker beendet und sorgten für die Erneuerung der Welt. Man kann sie als therapeutische Verfahren begreifen, als kultische Medizin und Heilungsrituale. Der tödliche Agon entlädt die hitzige Verstörung bis heute.
In der Figur des Spielleiters betraten die ersten Priester die Bühne der Erde. Ihre Insignien waren Ornat, Tiara, Krummstab und Szepter. Sie übernahmen als heilige Hinrichter und Therapeuten Schuldgefühle und Vergeltungsängste und galten als Garant für ein gedeihliches Auskommen mit dem Himmel. Sie gewannen so viel Macht, dass sie zu Priesterkönigen aufstiegen, deren Stellung erst nach längerem kosmischen Frieden an Fundierung verlor. Das heilige, heilende Töten der Priester beschützte das Gemeinwesen vor beleidigten Mächten, es befreite die eingeklemmte Wut und befähigte die Gläubigen, sich wieder ihrem praktischen Alltag zu widmen.
Neben den Geschichten von göttlichen Zwistigkeiten entstanden Fabeln über menschliche Heroen, welche Giganten, Dämonen, Drachen, Chimären, ja sogar Götter herausforderten. Durch seine Heldentaten war es dem Heros vergönnt, selbst göttliche Würde zu erlangen. Dadurch erhob eine weltliche Macht ihr Haupt, die der Übernatur Widerpart bot. Schauspiel und Drama entfalteten sich ebenso wie körperlicher Wettstreit, wie er heute noch etwa in den olympischen Kämpfen anzutreffen ist, die übrigens ausgerechnet von einem König der Juden in ihrem Bestand gerettet worden sind.
Der an einem Pfahl aufgehängte Leichnam eines Opfers mit seiner Schreckensmaske war die erste Götterstatue auf meiner Erde. Dann wurden Götterpersonen aus Holz geschnitzt, später aus Stein gemeißelt. Der geformte Gott trat in Erscheinung. Er wurde, wie die Opferdarsteller, ornamentiert und mit Fett eingerieben. Die Griechen nennen eine solche Statue »christos«, was »gefettet« oder »eingeschmiert« bedeutet. Wir Juden nennen sie »Ölgötze«. Die Bildnisse wurden als Heilbringer mit Ehrenbezeugungen überhäuft, ihre Opfer durch ausgiebiges Üben auf das wohltätige Ableben vorbereitet, und ihre Verwalter durften sich über Reichtum und Einfluss freuen. Die Scham der Gläubigen, ohne das Tötungsritual nicht auskommen zu können, vermochte nur ertragen zu werden, wenn tatsächlich alle beim Morden mitmachten. Opferverweigerer, welche die Hostien, die Sühneopfer, ablehnten, mussten selbst im nächsten Spiel eine tragende Rolle übernehmen oder wurden anderweitig bestraft, denn sie hatten sich außerhalb der blutvergießenden Gemeinde gestellt. Außerdem sagte man gerade ihnen die schlimmsten Opferpraktiken nach. So hat sich ein gewisser Apollonius von Molon für den jüdischen Tempel einen goldenen Eselskopf imaginiert, dem jährlich in großer Heimlichkeit ein üppig gemästeter Griechenjüngling darzubringen war.
Das Denken der Menschen ist durch die Kataklysmen der Sintflut von Grund auf umgestülpt worden. Die ursprüngliche Friedfertigkeit und Faulheit verwandelte sich in ihr Gegenteil. Seitdem sehen sie die Welt weniger als Lebensraum denn als Schlachtfeld an, auf dem ein immerwährender Krieg herrscht zwischen guten und bösen Kräften, zwischen den Heerscharen des Lichts und der Finsternis. Die körperlich Stärksten und Leistungsfähigsten rückten überall an die Spitze und beherrschten die Gemeinwesen, womit gleichzeitig in der Regel auch die Unreifsten und geistig Ärmsten zur Macht befördert wurden. Sie pflegten die Grundlage ihrer Herrschaft, den Massenwahn, und nahmen ihn in Dienst für ihre kriegerischen Unternehmungen. Hervorzuheben sind die Nordvölker, die längere Zeit unter Dunkelwolken leben mussten und daraufhin erbleichten. Deren Männer bekamen eine außergewöhnlich gewalttätige Natur, weshalb sie bevorzugt als Legionäre verwendet werden. Das niedere Recht des Stärkeren fasste nachhaltig Fuß und ist bis in meine Tage Triebkraft der Geschichte.
Die für einen Gottsucher wichtigste Frage stellte sich nach dieser Diagnose: Wonach verlangte der Befund, den ich erhoben hatte? Hier wies Jeremias, von den Propheten derjenige, der meinem Herzen am nächsten steht, die Richtung. Der Mensch war als Einzelner ins Auge zu fassen. Er bedurfte einer Verinnerlichung des Gesetzes. Sein privates Verhältnis zu Gott musste neu begründet werden, ohne vermittelnde und makelnde Instanzen dazwischen. Die Gotteserkenntnis konnte reifen und zu lebensdienlichem Verhalten führen, wenn der Mensch gleichsam mit einem gewandelten Herzen nach inniger Verbindung zu Gott strebte. Unter dieser Voraussetzung vermochte der Einzelne klare Einsicht in die Gebote des Lebens zu gewinnen und den Vorrang geistiger Werte zu erkennen. Er wurde zur Selbsterziehung befähigt, denn ihm wurde damit der Keim zur Vernunft eingepflanzt. Seine Furcht und sein Irren brauchte er dadurch nicht mehr per Körperkraft oder Waffengewalt zu bewältigen; eine neue Religion des Herzens, auf das private Gewissen gegründet, würde die Gottsuche beflügeln und zur Weisheit der Lebensliebe führen. Aus dem aufrichtigen Verlangen nach Vernunft und Bildung würde unmittelbar die Annäherung an das Wesen Gottes erwachsen, an die Liebe. Gott hatte seinem Geschöpf ein Herz zum Denken gegeben, damit es in der ihm geschenkten Wahlfreiheit für sein Wollen den richtigen Weg finden konnte. Und wenn die Menschen von ganzem Herzen nach Gott forschten, so ließ er sich gern finden, darauf war Verlass, das war so sicher wie das Amen in der Synagoge.
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