Aber ich schweife ab, denn ich muss noch erklären, dass seit den Schlachten vor den Toren Brüssels fast vier Wochen vergangen waren. Und so bin ich noch schuldig, zu erzählen, was ich seither erlebt hatte. Bei meiner Rückkehr nach Brüssel in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni 1815 war von dem großen Sieg über Napoléon Bonaparte noch nichts zu spüren. Die Stadt war weiterhin mit Militär überfüllt, allerdings waren es jetzt zurückkehrende Kolonnen von Infanteristen und Fuhrwagen von Verwundeten, die zu ihren Wachfeuern und Zelten strebten oder in die Lazarette und zu den Verbandsplätzen gekarrt wurden. Die Euphorie sollte sich erst einige Tage später einstellen.
Ich fand meine Unterkunft leer vor, obwohl ich so gehofft hatte, Freund Louis in die Arme schließen zu können. Ich wusch mich notdürftig mit kaltem Wasser und legte mich recht hungrig schlafen. Am nächsten Morgen weckte mich Tumult. Ich kleidete mich schnell an. Zum Glück hatte ich eine zweite Uniform im Zimmer deponiert, denn der Rock, den ich während meines Abenteuers getragen hatte, war ohne eine gründliche Reinigung und ohne Flickarbeit nicht mehr zu gebrauchen. Dies war mir aber auch erst aufgefallen, als ich am Abend die Kleider abgelegt hatte.
Unten im Haus traf ich den Wirt, der mir sofort die Neuigkeiten mitteilen wollte, die Brüssel in den letzten Stunden erreicht hatten. Ich ließ mir berichten, aber erfuhr zumeist nur Unbedeutendes, um festzustellen, dass die Lage und der Ausgang der Schlacht keineswegs bekannt waren. Nur eines schien sicher, keine der Parteien hatte Napoléon Bonaparte gefangengenommen, aber angeblich wurde auf dem Brüsseler Marktplatz ein Planwagen mit den persönlichen Habseligkeiten des Kaisers ausgestellt. Kleidung, die Napoléon getragen haben soll und die jetzt zu ersteigern war. Mir schien dies eher unwahrscheinlich, da längst Offiziere dem Treiben Einhalt geboten hätten.
Ich konnte meinem Wirt gerade noch die verschmutzte und zerrissene Uniform übergeben, mit dem Auftrag der Reinigung und Instandsetzung, als mich der Tumult, den ich schon auf meinem Zimmer gehört hatte, vors Haus trieb. Ich eilte aus der Gasse zu einem Platz, auf dem gerade mehrere Fuhren Heu abgeladen wurden. Eine preußische Kavallerieeinheit hatte den Ort eingenommen, die Pferde wurden mit Wasser und Heu versorgt, die Reiter erhielten Speisen und Wein von den Anwohnern, die ebenso zahlreich erschienen waren. Ich ging umher, sah mir Männer und Tiere an. Es war eindeutig, dass die Kavallerie aus der Schlacht kam. Ein junger Leutnant versorgte gerade die Wunde am Hinterlauf seines Pferdes, als ich dazu trat. Der Mann richtete sich sofort auf und salutierte vor meiner Majorsuniform.
»Nein, nein, machen Sie weiter«, sagte ich schnell, »das Tier geht vor. Kann ich Ihnen helfen, benötigen Sie Verbandsmaterial?«
Der Leutnant schüttelte den Kopf und zeigte mir, dass er ausreichend mit Leinen und Charpie versorgt war. »Danke, es wird schon gehen, nur ein Kratzer, er hat es schnell vergessen, wenn wir erst die Franzosen nach Paris hineinjagen.«
»Wo haben Sie gekämpft?«, fragte ich.
»Bei Wavre und dort ist es noch nicht zu Ende, aber ich glaube, wenn wir zurückgeschickt werden, brauchen wir nur noch aufzuräumen und dann geht es nach Paris.« Er stockte. »Vor zwei Tagen haben wir noch ordentlich Haue gekriegt, das zahlen wir jetzt zurück.«
»Ich war dort, ich habe es gesehen. Am Ende zählt nur die Summe und nicht ein einzelner Erfolg.«
Der Leutnant sah mich ungläubig an, aber ich gab ihm keine weiteren Erklärungen, auch weil ein Trompetensignal ihn und seine Kameraden zum Aufbruch rief. Reste von Heu, leere und zerbrochene Flaschen und einige Brüsseler Bürger blieben auf dem Platz zurück. Im Verlaufe des Tages sollten weitere Einheiten durch die Stadt kommen, Briten, Niederländer und Preußen. Ich aber setzte meinen Weg fort, durchquerte einen Park und stand vor jenem Stadtpalais, in dem drei Tage zuvor die Geschichte ihren Lauf nahm. Tatsächlich waren einige Bedienstete noch mit Aufräumarbeiten betraut.
Ich ging einfach ins Haus und in den Saal, der sich doch sehr verändert hatte. Die Girlanden und Vorhänge waren abgenommen, die Tische und Stühle standen auf der Tanzfläche, gestapelt und abholbereit. Einige Handwerker bauten eine Trennwand wieder ein, die aus dem Saal zwei oder drei separate Räume machen sollten. Allein das kleine Sofa, auf dem der Duke of Wellington gesessen hatte, während ihm einer seiner Stabsoffizieren Berichte von den Vorgängen an der Kreuzung Quatre-Bras übermittelte, stand noch an seinem Platz neben einem schmalen, hohen Fenster. Ich setzte mich hinein, schloss kurz die Augen, wurde dann aber angesprochen und höflich gebeten, mir eine andere Sitzgelegenheit zu suchen, da man das Möbel gerade abräumen wolle. Und so wurde der gesamte Saal geleert und später wieder zu den Empfangs- und Gesellschaftsräumen gemacht, die sie vor der Nacht vom 15. auf den 16. Juni waren.
Ich suchte mir keinen neuen Platz, verließ das Palais wieder und ging rechts in die Rue de la Blanchisserie, deren Namen mir in Erinnerung blieb, weil sich in der Mitte der Straße eine Schule für mathematisch-naturwissenschaftliche Studien befand, deren Schaufensterauslage ein wunderschönes Teleskop auf einer Dreibeinlafette zierte. Ich musste einen Moment lang an Philippe denken, der sich auf Elba ein Observatorium gewünscht hatte. Ich fragte mich auch, was aus Bellevie und dem Professor geworden war. Entweder waren sie wieder in Paris oder sie warteten darauf, dass man Napoléon zurück nach Elba brachte.
In meine Gedanken versunken hörte ich erst den zweiten Ruf meines Freundes Louis, der ebenfalls in frischer, aber niederländischer Uniform auf mich zu ging. Er war in Begleitung von zwei britischen Offizieren und bevor ich überhaupt begriff, wurde ich ihnen vorgestellt und wir feierten ein Wiedersehen.
»Hast du die Seiten gewechselt?«, fragte ich übermütig und deutete auf Louis’ Rock.
Er schüttelte den Kopf. »Nur eine freundliche Leihgabe. Mein eigenes Tuch war schon sehr zerschunden, und das nach zwei Tagen. Der segensreiche Regen, der ebenso segensreiche Schlamm und zwei durchwachte Nächte.«
Ich verstand, was Louis mit segensreich meinte. Regen und Schlamm, das schlechte Wetter insbesondere, hatten Napoléon zögern lassen, so dass es den Preußen gelungen war, noch rechtzeitig dem Duke of Wellington zu Hilfe zu kommen. Diese umfassende Einschätzung hatten wir so kurz nach der Schlacht zwar noch nicht, aber wer die Schlachtfelder gesehen hatte, ahnte bereits, dass Napoléons Niederlage am Ende auch dem Wetter geschuldet war.
»Aber du bist anscheinend schadlos über die letzten Tage gekommen«, stellte Louis fest, als er mich nun genauer musterte. »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass du den Ermahnungen des Överstes gefolgt bist und wirklich nur als reiner Beobachter unterwegs warst.«
Louis sprach von Överste Kungsholm, der uns genau instruiert hatte, bevor es für uns nach Brüssel ging. Keinesfalls sollten wir in die Kampfhandlungen zwischen Briten, Preußen und Franzosen eingreifen. Ich erzählte also, dass ich im Grunde genommen gegen den Befehl verstoßen hatte, berichtete von meinen Erlebnissen.
»Dann hat es Wellington Ihnen zu verdanken, dass Blücher noch lebt und rechtzeitig auf dem Schlachtfeld erschienen ist«, behauptete einer der beiden Briten und klopfte mir auf die Schulter.
Ich schüttelte den Kopf. »Als wir Blücher unter seinem Pferd hervorholten, war die Gefahr längst vorüber. Sein Adjutant hat ihn gerettet, weil er ihm den Mantel übergeworfen hat, wodurch die durchreitenden Franzosen Blüchers Orden nicht erkannt und ihm keine Beachtung geschenkt haben.«
»Nicht so bescheiden, mein Freund.«
Wieder wurde mir auf die Schulter geklopft und es war dann auch der Abschied von den beiden britischen Kameraden. Louis und ich gingen zurück zu unserer Unterkunft. Louis entledigte sich der niederländischen Uniform, ließ sie von einem der Zimmermädchen ausbürsten, lüften und ordentlich einpacken, um sie später zu der Adresse in Brüssel zu schicken, die man ihm aufgegeben hatte.
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