Ich blickte nach vorne. Französische Kavallerie schlug gerade unsere Richtung ein. Es würde zum Aufeinandertreffen kommen, bei dem wir chancenlos waren. Ich sah wieder zu Major von Nostitz, um ihn zu warnen. Er hatte seinen schweren Mantel abgenommen, breitete ihn über einen Mann aus, der unter seinem toten Pferd eingeklemmt war. Noch bevor das Tuch die Körper verdeckte, sah ich die Rangabzeichen und Orden. Feldmarschall Blücher lag dort und ich musste annehmen, dass er tot war. Der Major hatte sich schon hinter einem nahen Baum verschanzt, als er mich bemerkte und nach mir rief.
XIch hörte zwar seine Worte nicht, verstand aber, was er wollte. Mit einem Satz sprang ich aus dem Sattel, ließ mein Pferd laufen und hockte mich neben den Major. Der Baum mit seinem breiten Stamm verbarg uns für den Moment vor den heranstürmenden Franzosen. Sie überritten die Stelle, an der Feldmarschall Blücher lag und wie durch ein Wunder ging der Sturm vorbei. Major von Nostitz sprang sofort auf, eilte zu der Stelle und lüftete den Mantel. Ich war sogleich an seiner Seite und sah, dass der Feldmarschall noch lebte, stöhnte und bereits versuchte, sich unter seinem toten Pferd zu befreien. Ich packte mit an, stemmte mich gegen den schweren Hals des Rosses, so daß der Major den Oberkörper Blüchers hervorziehen konnte.
Jetzt sah ich mich wieder um, denn was nützte unsere Befreiung, wenn wir hinterher von Franzosen umzingelt waren. Der Gegenangriff hatte die Kürassiere aber zur rechten Flanke abdrehen lassen, so dass jetzt wieder die preußischen Verteidiger näher an uns heranrückten. Feldmarschall Blücher stand schon wieder auf den Beinen, musste aber von Major von Nostitz gestützt werden. Blücher wirkte blass, lächelte mir dann aber zu und in diesem Moment verstand ich, warum seine Männer ihn verehrten. Ich war ebenfalls für ein, zwei Sekunden gefangen.
Wir blieben nicht lange alleine, schon kam preußische Kavallerie heran, brachte uns Pferde. Blücher wurde in den Sattel gehoben, bekam links und rechts Begleitung und konnte so hinter die Linie in Sicherheit gebracht werden. Ich ritt zusammen mit Major von Nostitz hintendrein. Wir sprachen nicht, er nickte mir nur einmal zu, womit er mir seinen Dank zu verstehen gab. Von da an gehörte ich gut zwei Tage zum Tross Feldmarschall Blüchers, der die Führung des nun einsetzenden preußischen Rückzugs an Generalleutnant August Neidhardt von Gneisenau abgeben musste.
Blücher galt bei seinem Stab sogar über Stunden hinweg als vermisst, so dass erst spät in der Nacht wieder Verbindung mit Gneisenaus Adjutanten aufgenommen werden konnte, um den Verbleib des Feldmarschalls zu klären. Gneisenau behielt vorerst die Führung. Es war auch notwendig, weil sich Blücher von dem Sturz noch erholen musste. Dennoch konnten wir erst am nächsten Morgen einen Halt einlegen.
Ich blieb derweil im Hintergrund, wurde aber einmal zum Feldmarschall vorgelassen. Blücher hatte seine Prellungen und Abschürfungen inzwischen selbst behandelt, und zwar mit Schnaps zur inneren Heilung und mit Franzbranntwein zur äußeren Anwendung. Dies war sehr deutlich zu riechen, als er vor mich trat, mir die Hand reichte und mir in einem für mich merkwürdigen Deutsch dankte. Ich konnte ihm in seiner Sprache antworten und so kam es, dass ich ihm von meiner Herkunft erzählen musste, von dem schwedischen Vater und einer Mutter, die in Lübeck zur Welt kam. Dies schien ihn sehr zu interessieren, weil er selbst aus einer ehemaligen Hansestadt stammte und Rostock und Lübeck über die Ostsee doch recht eng verbunden seien.
Das Gespräch blieb kurz, da mir Blüchers Umfeld zu verstehen gab, dass der Feldmarschall Ruhe brauchte, um der fliehenden Armee später am Tag folgen zu können. Ich ging also wieder, ließ mich noch versorgen, erhielt sogar ein frisches Pferd und stand vor der Entscheidung, wohin mich mein Weg führen sollte. Zur Wahl stand die Rückkehr nach Brüssel, um die Ereignisse dort abzuwarten. Es wäre eine langweilige und wenig mutige Entscheidung gewesen, denn mich brannte es, zu erfahren, wie es Freund Louis in Quatre-Bras ergangen war, denn auch dort hatte es eine Schlacht gegeben.
Den Ausschlag für meine Entscheidung gab dann aber Major von Nostitz, der auch noch einmal das Gespräch mit mir suchte. Er hatte inzwischen einen Überblick und kannte auch Gneisenaus taktische Überlegungen. Die Schlacht bei Ligny war verloren, die Preußen aber nicht besiegt, was die Franzosen nachholen wollten. Anfangs gab es bei der Flucht noch eine ganze Armee von Verfolgern, aber der verantwortliche französische Befehlshaber hatte sich am Ende für die falsche Himmelsrichtung entschieden. Er wähnte die Preußen im Osten, doch Gneisenau ließ nach Norden marschieren und entfernte sich damit nicht unnötig von den Briten und Niederländern und hielt sich sogar die Option offen, noch bei Quatre-Bras eingreifen zu können. Und wenn ich dem Rückzug der Preußen folgte, der vielleicht sogar die Vorbereitung eines Angriffs war, konnte ich immer noch in der Nähe sein, wenn die Entscheidung für oder gegen Napoléon fiel.
*
Quatre-Bras und Waterloo. Diese Orte haben sich tief in die Geschichtsbücher eingeprägt. Ich kann nur schlecht erzählen, was ich nicht im eigenen Angesicht erlebt habe, obwohl ich mich rühme dabeigewesen zu sein, den Pulverrauch eingeatmet und das viele Blut geschmeckt zu haben, das in diesen Frühsommertagen vergossen wurde. Am 18. Juni 1815 brach ich gegen Mittag von einem Dorf namens Ottignies aus auf. Die Preußische Armee war längst weitergezogen, um am großen Treffen teilzunehmen. Napoléon bedrängte Wellington, doch da kam ihm Blücher zu Hilfe. Aber es war nicht Blücher selbst, denn der Alte ließ sich noch immer von Gneisenau vertreten. Ich hatte ein neues Pferd, geladene Pistolen und den Säbel am Sattel hängen, als ich in Richtung des Kanonendonners ritt, der aus dem Dorf Wavre kommen musste und zunächst nur schwach in der Luft hing. Ich holte mehrere preußische Infanteriekolonnen ein, die als Reserve langsamer an die Schlacht herangeführt wurden. Ich trabte über Felder, die der Regen des Vormittags weniger durchweicht hinterlassen hatte. Eine Karte und der Kompass halfen mir, mich auf dem flachen, jedoch hochbewachsenen Gelände zurechtzufinden.
Ich passierte einige unversehrte, aber menschenleere Dörfer. An einer kleinen Erhebung fand ich eine verlassene französische Batterie von fünf Kanonen. Den Kanonieren musste die Flucht geglückt sein. Ich fand nur noch eine verlorene Mütze und einen einzelnen Stiefel. Es roch verbrannt und nach feuchtem Pulver. Die Munition der Kanonen fehlte und so war anzunehmen, dass vor der Flucht die Kugeln ausgegangen waren. Ich konnte annehmen, dass sich die Kanoniere auf ein Fuhrwerk gerettet hatten, denn eine tiefe Radspur führte den Hügel hinunter.
Ich übersah, dass das Fuhrwerk nicht von einem Gespann gezogen worden war, sich aber mehrere Paar Stiefel durch den schweren Boden gequält haben mussten. Ich sollte schnell begreifen, dass es kein Fuhrwerk war, sondern ein Geschütz, das von seiner Mannschaft nur wenige hundert Yards zu einer Senke geschleppt worden war. Ich übersah auch die Senke rechts meines Weges und die Truppen, die sich links von mir am Horizont abzeichneten. Ich erreichte gerade einen baumbestandenen Weiher in der Nähe eines Hofes, an dem sich nichts rührte, keine Ente, kein anderes Federvieh, das sich sonst dort tummeln musste.
Ich hielt inne, um den fernen Schlachtenlärm besser hören zu können, der meinen Weg leiten sollte, als ein Donner mich zusammenzucken ließ. Ich blickte sofort zur Seite, sah Pulverrauch aufsteigen und hörte das tödliche Pfeifen. Zehn, zwölf Yards von mir entfernt schlug eine kleinkalibrige Kanonenkugel in einen der Bäume am Weiher ein. Das nasse Holz hielt den Stamm zusammen und ersparte mir einen Regen aus scharfkantigen Splittern. Lediglich ein Stück Rinde prallte gegen den Schaft meines Stiefels und hinterließ einen Rußstreifen. Ich sprang vom Pferd, zog das Tier in Richtung Gehöft. Hier würden wir keinen Schutz finden, wenn das Gebäude zum Ziel wurde. Ich überlegte fieberhaft, als tatsächlich der nächste Schuss abgegeben wurde. Die Kugel flog deutlich zu weit, über das Haus hinweg und hundert oder sogar zweihundert Yards in das freie Feld.
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