Erst jetzt sah ich den Aufmarsch, konnte aber noch nicht die Nationalität der Soldaten erkennen. Es war vor allem Infanterie flankiert von einer geringen Anzahl Kavallerie. Der Tross kam langsam zum Stehen, bremste den offensichtlich strammen Marsch ab. Die Kanone sprach wieder und es dauerte lange, bis die Kugel erneut ins Feld einschlug, ohne dem Gegner merklich näher gekommen zu sein. Ich verharrte immer noch hinter der Mauer, war aber endlich dazu gezwungen zu handeln. Zunächst nahm ich mein Utzschneider zur Hand, um mir die Identität der Parteien zu bestätigen.
Ich hatte es mir schon gedacht, der Angriff mit der Kanone galt einem preußischen Bataillon. Jetzt löste sich die Kavallerie, es waren weniger als fünfzig Reiter, die schnell auseinander preschten, große Lücken zwischen sich ließen, um der Kanone keinen lohnenden Angriffspunkt zu geben. Da ich jetzt nicht mehr das Ziel sein konnte, schlich ich mich zur Häuserkante und spähte hinüber zur Senke. Dort tauchte plötzlich ebenfalls Kavallerie auf, französische Ulanen mit ihren ausgerichteten Lanzen, dahinter eine Schar Dragoner. Im nächsten Moment war auch ich wieder in Gefahr. Ich konnte mich zu den Preußen schlagen, doch bis dahin hatte man mich längst eingeholt. Ich bestieg dennoch mein Pferd, hielt die Zügel mit den Zähnen und spannte mit der Linken und Rechten die Hähne meiner geladenen Pistolen. Mit dem Druck meiner Schenkel ließ ich das Pferd nach hinten tänzeln, bis wir fast das andere Ende des Gebäudes erreicht hatten.
Der Sturm ging nicht an mir vorbei. Ich war gezwungen zu feuern. Ein Gegner fiel vom Pferd, der andere blieb mit einem Streifschuss am Arm im Sattel. Er hatte sofort seine eigene Pistole zur Hand. Ich duckte mich instinktiv zur Seite, beugte mich tief hinter den Hals meines Pferdes, als der Schuss krachte und keinerlei Wirkung zeigte. Ich hatte meinen Säbel gezogen, als ich auch schon neben dem Dragoner war. Ein heftiger Tritt mit den Sporen und mein Ross drängte das andere Pferd zur Seite. Die lange Zeit als Meldereiter hatte mich diese Manöver gelehrt. Der Feind gab seine Flanke frei. Mein erster Säbelhieb trennte ihm die Pistolenhand ab. Ich drehte mich im Sattel und schlug auf der anderen Seite zu. Ich schlitzte ihm den Rücken auf, so dass er sich im Todeskrampf nach vorne über den Hals seines Pferdes warf und von dort zu Boden rutschte.
Ich war noch außer Atem, als ich von unten angegriffen wurde. Der zweite Dragoner wollte mich mit einem schweren Kavalleriesäbel attackieren. Ich hatte ihm mit meiner Kugel eine böse Schramme über der Stirn zugefügt. Blut lief in sein linkes Auge. Er holte aus, musste aber blinzeln und taumelte kurz. Ich kannte keine Gnade, nutzte diese Chance und durchbohrte seine Brust mit meiner Säbelspitze. Jetzt war es höchste Zeit, mich zurückzuziehen. Ich hatte wenig Lust, mich in die entbrannte Kavallerieschlacht zwischen den Preußen und Franzosen zu werfen. Die preußische Infanterie drängte bereits heran.
Ich lud meine Pistolen nach, wendete dann mein Pferd, ritt um das Gehöft herum, am Weiher vorbei und direkt auf die Senke zu. Ich wechselte mehrmals die Richtung, ohne mein Ziel aus den Augen zu lassen. Diesen Manövern konnte die Kanone unmöglich folgen. Die eine Pistole steckte im Gürtel, die andere hielt ich in der Rechten und so preschte ich nach einer weiteren Wende seitlich in die Senke hinein. Ich überraschte die sechs Kanoniere. Einen streckte ich mit dem ersten Pistolenschuss nieder, ein Zweiter wollte mich mit seinem langen Ladestock vom Pferd holten. Ich ritt ihn nieder, hatte sofort mein Säbel zur Hand und schlug damit auf den Rest der Mannschaft ein. Sie konnten meinen Hieben ausweichen, ergriffen dennoch die Flucht, als ich erneut auf sie zupreschte.
Die französischen Artilleristen waren vertrieben, die feindliche Kanone erobert. Ich hieb auf die großen Räder ein, zerstörte damit die Lafette, so dass das Geschütz so schnell nicht wieder zum Einsatz kommen konnte. Jetzt musste ich mich wieder dem Scharmützel auf dem Feld hinter dem Gehöft zuwenden. Hier gab es eine Entscheidung. Die preußische Infanterie hatte Karrees gebildet, wehrte die französischen Dragoner ab, während die preußische Reiterei die Ulanen verfolgte, die als erste die Flucht ergriffen hatten. Siegesgeschrei beendete die kleine Schlacht, als die nicht geflüchteten Franzosen die Waffen streckten.
Es war nur ein kleiner Sieg, aber ich erfuhr später, dass es zum Ende des Tages viele dieser kleinen Siege gab. Und damit hatten Blücher und Gneisenau und Bülow und wie auch immer die Befehls- und Unterbefehlshaber der Preußen hießen, die Briten und Niederländer gerettet und verhindert, dass Napoléon Bonaparte an diesem geschichtsträchtigen Tag den entscheidenden Schlag ausführen konnte.
Es ist heute längst belegt, dass es nicht ein einzelnes Ereignis war, sondern die Summe aus Missverständnissen, Fehlentscheidungen, Wetterbedingungen und Glück oder eben Pech, die zur Niederlage in der letzten Schlacht des französischen Kaisers führte. Zwei Tage zuvor konnte Napoléon noch seinen letzten Sieg verbuchen, der allerdings immer und ewig einen Makel besitzen würde, denn dieser Sieg führte nicht zur Vernichtung der Preußen, sondern zur entscheidenden Stärkung der Koalition. Und hätte Napoléon doch gesiegt, so hätte es nur eine Verzögerung seines Untergangs bedeutet, denn Russland und Österreich rückten bereits heran und wären die nächsten schweren Gegner gewesen.
Abschließend stelle ich hier fest, dass ich die Schlacht bei Waterloo nicht erlebt habe. Ich traf erst am Abend des 18. Juni an einem Gasthaus mit dem Namen Belle-Alliance ein. Ich habe nicht gesehen, dass hier Historisches geschah, obwohl dies in späteren Berichten oft behauptet wurde. Belle-Alliance war für mich die Ansammlung toter und verwundeter Soldaten, war ein Teil des Schlachtfeldes von Waterloo. Ich für meinen Teil hätte dem Dorf Wavre ein Denkmal gesetzt, denn dort leisteten die Preußen einen guten Dienst, banden mehrere zehntausend französische Soldaten, die Napoléon in Waterloo bitter nötig gehabt hätte. Ich hielt es daher in Belle-Alliance nicht lange aus. In Wavre wurde weiterhin gekämpft und so schlug ich noch in der Nacht den Weg nach Brüssel ein. Ich fragte mich damals tatsächlich, ob der Ball der Herzogin von Richmond noch andauerte und ob ich dort Freund Louis Berg wiedersehen würde.
Ich blickte hinauf zu den Masten. Die britischen Matrosen rafften mit sicherer Routine die Segel am großen Baum. Im nächsten Moment wimmelte die Takelage von Männern und dann war das Manöver auch schon ausgeführt. Mit einer spürbaren Verzögerung neigte sich die HMS Myrmidon leicht nach Steuerbord, als das Ruder ein oder zwei Strich nach Backbord gesetzt wurde. Ich war gerne Beobachter des maritimen Treibens, konnte mich auf dem Schiff frei bewegen und traf Captain Gambier oft auf dem Achterdeck, wo wir uns unterhielten und nicht nur seemännische Diskussionen führten. Während sich Captain Gambier rühmen konnte, bereits auf anderen Schiffen seiner Majestät bei Abukir und später bei Trafalgar gegen Frankreich in die Seeschlachten gezogen zu sein, war die HMS Myrmidon noch ein recht neues Kriegsschiff, ohne nennenswerte Einsätze.
Dies fand ich aus Sicht eines Schiffbauers eher interessant. Wenn ich alleine auf der Brigg unterwegs war, berührte ich gerne das noch frische Holz der geschwungenen Reling oder verglich unter Deck die Konstruktion und die Aufteilungen mit denen jener Schiffe, die auf der Werft meines Vaters in Lomma gebaut wurden. Captain Gambier versicherte allerdings, dass die Myrmidon ein schlechter Segler sei. Das Ruder reagiere eher träge und auch die Wendigkeit hatte unter der Entscheidung gelitten, ein knapp hundertzwanzig Fuß langes Schiff mit recht schweren 32-Pfund-Karronaden auszurüsten, von denen achtzehn Stück über Deck verteilt waren. Weniger ist mehr, sagte ich mir, wenn man die Schlagkraft nicht einsetzen konnte, weil einem der Feind davonsegelte. Was mir allerdings an der Ausrüstung gefiel waren die beiden 9-Pfund-Jagdkanonen im Heck, mit denen sich der Captain die Kajüte teilte.
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