Eric machte wieder eine Pause. Der Gedanke an das, was gleich kommen würde, ließ ihn verstummen. Das alles war ihm sehr unangenehm, fast peinlich, jetzt erst recht. So, es waren nur Träume, die hatte jeder mal. Möglicherweise nicht solche, aber sicher auch verrückte. Jack jedoch saß immer noch da und er hörte wortlos zu. Doch sein Gesicht war nicht mehr ganz so entspannt wie am Anfang. Er zog die Augenbrauen hoch und machte ein fragendes Gesicht, wirkte aufmerksamer denn je und wollte mehr, obwohl ihm klar war, dass Eric zunehmend unruhiger wurde.
»Weiter?«, meinte Jack. Eric zögerte, sah die gefährliche Möglichkeit, in der bloßen Erinnerung zu versinken.
»Da ist noch ein Wesen auf der anderen Seite der Barriere. Ich erkenne, dass alles dahinter brennt, das Feuer ist der Grund für die Hitze und das Licht. Die Barriere ist aber unendlich hoch, glaube ich zumindest zu wissen. Wie die Scheibe vor einem unendlichen Ofen. Ich spüre diese Gewissheit im Traum, ich hinterfrage sie nicht. Jedenfalls schlägt dieses … Biest plötzlich von seiner Seite gegen den Kristall, die Mauer ist zwar sehr dick aber mich haut es glatt von den Füßen. Ich kann nicht klar durchschauen, da die Kristalle das Licht so seltsam brechen und verzerren, aber das Ding hört einfach nicht auf, bis es sich schließlich so weit in das Material hineingearbeitet hat, dass ich an einer Stelle klar durchsehen kann.«
Erics Stimme versagte, seine Augen waren geschlossen. Er wollte aufstehen und davonlaufen, verlor fast gänzlich den Bezug zu seiner Umgebung. Doch er blieb sitzen, krallte sich so hart am Baumstumpf fest, dass der Schmerz seiner Finger ihn zurückholte.
»Es sieht mich an und direkt in mich hinein, irgendwie. Die ganze Zeit hält es den Blickkontakt und ich kann nicht wegschauen, obwohl ich im Kristall die Spiegelung dessen sehe, was mich bis dorthin verfolgt hat. Ich verbrenne von innen heraus, ich … Es gibt einen Grund, ich weiß nur nicht, welchen. Das Monster hinter mir springt mich an und frisst mich auf, es hält mich in seinem Maul fest und beißt zu, ich spüre das alles und kann nichts dagegen machen. Das Ding wiegt Tonnen und allein der Aufprall hat mich schon fast erledigt. Ich bin einfach klein und schwach und … Fuck!«
Eric stand auf, öffnete die Augen und machte einen Schritt zurück, vorbei am Baumstumpf. Das plötzlich blendend helle Sonnenlicht ging direkt in jenes Feuer über, welches gerade durch seine Gedanken tobte. Er tastete unwillkürlich seinen Oberkörper ab, etwas kribbelte in seiner Nase. Sie blutete leicht. Wütend und verzweifelt wischte er sich das Blut aus dem Gesicht, setzte sich wieder hin und ballte die Fäuste, versuchte, sich zu beruhigen. Jack stand auf, doch bevor er irgendetwas sagen konnte, fuhr Eric fort:
»Genau in dem Moment durchbricht das andere Wesen die Barriere und alles ist nur noch Feuer und hell. Und ich bin definitiv abgekratzt. Verbrannt, gefressen, such’ dir was aus. Was noch besser ist als vor ein paar Monaten, weil es etwas schneller geht als stundenlang von diesen Dingern gefoltert zu werden. Sie wollen irgendetwas von mir aber ich verstehe sie nicht. Ich weiß nur, dass ich sie alle vernichten will, dass ich sie langsam und so bitter wie möglich zerfleischen will. Ich will, dass sie leiden, sehne mich nach ihrem Blut und weiß ganz genau, wie es sich anfühlen würde. Ich glaube, ich habe schon einige von ihnen verletzt aber das ist lange her. Ich weiß, wie sie sich bewegen, wie sie funktionieren … Aber ich bin einfach zu klein und noch zu schwach, um mich zu befreien. Ich habe das Gefühl, dass ich genau dafür da bin. Und was hinter dieser scheiß Mauer ist? Ich weiß es nicht. Aber es ist viel, viel schlimmer und stärker. Es sucht nach mir.«
Eric bebte vor Zorn. Eine unfassbare Aggression, Hilflosigkeit, Schmerz und Verzweiflung entluden sich in genau diesem Moment und es gab nichts, woran er das schwere Chaos abreagieren konnte. Er fühlte sich schuldig und irgendwie zerstörerisch bloßgestellt, überwältigt und geschockt, lebensmüde. Er spürte Jacks Anwesenheit und war kurz davor, ihn einfach stehenzulassen. Doch schon in der nächsten Sekunde blockierte er den triebartigen Impuls zur Flucht. Was konnte Jack dafür? Eric schmeckte das eigene Blut, das machte alles nur noch schlimmer. Wie automatisch öffnete er seine Hand und fing die schnellen Tropfen auf. Er hielt die Augen offen und starrte ins Gras zwischen seinen Füßen, beruhigte langsam seine Atmung und sog den saftigen Duft des Waldes in sich auf, um jenen von Asche und seinem brennenden Fleisch zu vertreiben. Er ließ das Gefühl der warmen Sonne auf seinen Handflächen gegen den schwelenden Schmerz verkohlter Haut antreten. Es funktionierte, wenn auch langsam.
Jack wich langsam vor Eric zurück, setzte sich wieder auf seinen Platz und starrte seinen Cousin nur ungläubig an, als ob der ihm gerade die Freundschaft gekündigt hätte. Eric war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Doch er würde mit Sicherheit gleich irgendetwas sagen, um diese unerträgliche Stille zu brechen. Dann, als er sich gerade für seinen Ausbruch entschuldigen wollte, löste sich die Verspannung aus Jacks Gesicht und er flüsterte mehr zu sich selbst als zu Eric:
»Es tut mir so leid … unglaublich.«
Eric blieb still. Das war das Letzte, was er erwartet hatte. Jack, immer offen für alles Unglaubliche, wirkte zweifelnd. Jack hatte ja schon erzählt, dass er den Geschichten seines Vaters nicht geglaubt hatte, aber so hatte Eric ihn noch nicht erlebt. Der kam langsam wieder zur Ruhe, leckte das Blut von seiner linken Hand. Seine Stimme war leise.
»Was denkst du? Glaubst du, ich hab sie nicht mehr alle? Oder wie?«
Jack sah ihn entschuldigend an.
»Nein, das nicht … Ich denken Geschichte meines Vaters und über deine Träume. Du sagen, du haben auch andere? Wenn du wirklich so geträumt, dann will ich gerne etwas wissen.«
»Was denn?«, fragte Eric erleichtert und auch neugierig. Jack stand auf und stellte sich genau vor Eric. Der sah hoch und wunderte sich, seine Frage klang fast wie eine Drohung:
»Was hast du vor?«
Jack holte einmal tief Luft, dann sagte er:
»Ich herausfinden, ob du wirklich ein Drache, wie ich dir Name gegeben habe.«
»Was?!«
Wie ein Stromschlag zog das Wort Drache durch Erics ganzen Körper, so, als ob es ihn direkt betreffen würde und nicht einfach nur sprachlos machte. Jack sah ihn an und sagte unruhig:
»Es sich krank anhören, aber wenn du einer sein, dann bitte nicht so groß! Du müssen nur glauben, dann es funktionieren. Und ich dir helfen.«
Eric sah seinen Freund mit leerem Blick an, wie etwas, das sich gerade unbegreiflich verändert hatte. Er fragte sich, ob Jack wirklich so ignorant war und ein Spiel spielen würde. Eigentlich unmöglich, das wäre nicht Jack. Er prüfte seine Gefühle, warf einen kurzen Blick über die Schulter. Gut, das war also kein Traum. Demnach hatte zumindest einer von ihnen definitiv den Verstand verloren. Doch Jack meinte es ernst. Was aber irgendwie auch nicht dagegen sprach, dass er einer seltsamen Fantasie verfallen sein mochte. Eric hing irgendwo zwischen Resignation, erschlagender Müdigkeit und der eigenen, plötzlich sehr angeregten Neugier. Sein analytisches Denken setzte unvermittelt ein. Er vermutete nichts, was sich nicht erklären ließe. Bestimmt würde ihn Jack hypnotisieren oder so, das hatte er schon einmal getan, um seinem Zimmerkameraden zu zeigen, wie es sich anfühlte. Überrascht stellte Eric fest, dass er sich plötzlich dazu entschloss, nahezu gleichgültig hinzunehmen, was Jack da gerade entwickelte. Er konnte ja auch hinterher fragen, ob Jack noch alle Tassen im Schrank hatte. Ein kurzer Gedanke daran, dass er sich so vielleicht heftiger als vorher den Träumen annähern müsste, erstickte sofort in seiner Müdigkeit. Es war egal. In der nächsten Nacht ginge es ohnehin weiter.
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