Ich greife erneut zur Kaffeekanne und fülle die letzten leeren Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit. Jeder von uns besitzt seinen eigenen Kaffeebecher, aus dem sonst niemand anderer trinkt.
„Guten Morgen, ihr zwei“, begrüße ich meine anderen Freunde, während ich für Diether zwei Stücke Zucker in seinen Kaffee gebe und für Mariola etwas Milch in ihre geliebte Rosentasse gieße.
„Du bist ein Engel wie jeden Morgen“, sagt Mariola dankbar und schlingt ihre ausgekühlten Hände um die warme Tasse. „Die fünf Minuten an der kalten Luft reichen bei mir schon aus, um meine Finger in Eiszapfen zu verwandeln. Dein heißer Kaffee ist gerade meine letzte Rettung vorm Erfrieren.“
„Ist heute wieder mal das große Übertreiben angesagt, oder soll ich vorsorglich den Bestatter bestellen?“, fragt Martha in die Runde, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen.
Ich lasse diese Frage unkommentiert, weil das in der Regel Marthas Art von Teilnahme an unseren Gesprächen ist, zum häufigen Ärgernis der anderen. Sie tun sich nach all der gemeinsamen Zeit noch immer schwer damit, unsere älteste Freundin dahingehend zu ignorieren. Aber dann wäre es auch wieder langweilig, denn sie alle brauchen diese Art der Kommunikation.
Martha bereitet es großen Spaß, ihre Freunde mit solch ungebetenen Äußerungen in den Wahnsinn zu treiben, und die anderen lechzen danach, damit sie irgendetwas haben, worüber sie sich den ganzen Tag aufregen können. Und mit guten Ritualen solle man ja bekanntlich nicht brechen.
„Ein bisschen Mitleid würde dir nicht schaden. Du wohnst direkt nebenan und brauchst nur die nächste Tür betreten, dann bist du sofort wieder im Warmen. Diether und ich müssen erst die Straße hochlaufen, und bis dahin sind wir schon längst durchgefroren“, bemitleidet Mariola sich selbst, weil es kein anderer tut.
„Hallo Judy, ich danke dir“, begrüßt mich Diether und hebt dabei wie jeden Morgen seinen Kaffeebecher in meine Richtung. „Da wir schon beim Thema sind, also ich meine Engel nicht Maris‘ Wehklagen. Wann soll die Lichterparty bei dir steigen?“
Bevor ich ihm antworte, trinke ich einen großen Schluck meines karamellfarbenen Kaffees.
„Um sechs Uhr nach Ladenschluss, wie immer. Frederick weiß schon Bescheid. Eigentlich sollte er das an dich weitergeben, der Drückeberger.“
„Das wird dann mal wieder ganz lustig mit dem alten Weihnachtsmuffel“, meint Diether daraufhin entgeistert, der die Beleuchtung lieber alleine aufhängen würde.
Ich finde, Freunde sollten durch dick und dünn gehen, also auch Dinge tun, die man nicht gerne mag, um seinen Freunden einen Gefallen zu tun. Darauf bin ich stets sehr bedacht. Jeder soll vom anderen wissen, was er an ihm schätzen kann.
„Das Stressigste am Dekorieren ist immer die Beleuchtung. Und bevor du lange Arme und schlechte Laune bekommst, solltest du dich über Freddys Unterstützung freuen. Außerdem macht ihr das doch jedes Jahr zusammen“, erinnere ich ihn an das gemeinsame Tun.
„Ja, genau das ist das Problem. Er meckert die ganze Zeit herum und schimpft auf Weihnachten und vermiest mir damit die Vorfreude. Das hat er bisher jedes Jahr geschafft. Dieses Jahr will ich das nicht“, bringt Diether seinen ganzen Mut auf und sagt endlich mal das, was er seit Jahren loswerden will, auch wenn der eigentliche Adressat ein anderer ist.
„Okay. Ruf Freddy an und sag es ihm genauso, wie du es uns gerade gesagt hast. Und heute Abend kümmerst du dich alleine um die Beleuchtung“, bestätige ich ihn in seinem Mut.
Diethers klare Aussage hinterlässt Eindruck. Sogar Martha schaut kurz von ihrem Buch hoch, lächelt und begibt sich sogleich wieder auf Hundejagd.
Mariola sieht Diether für einen Augenblick mit großen Augen und geöffnetem Mund an.
„Wow! Das war ja mal klar und deutlich formuliert. Hast du das vorher auswendig gelernt? Sonst stammelst du dir doch immer einen ab, wenn du etwas Ernstes sagen willst. Da lernen wir nach so langer Zeit noch eine ganz neue Seite an dir kennen.“
„Ja, ja. Mach du dich nur wieder lustig über mich. Ihr wisst doch ganz genau, was ich meine. Ihr bekommt das Theater jedes Jahr mit“, setzt Diether erneut an.
„Das Weihnachtstheater ist traditionell das Einläuten der Weihnachtszeit in Judiths Laden. Es wäre doch sehr schade, wenn wir in diesem Jahr um das schöne Spektakel gebracht würden“, kommt ein Einwand aus Marthas Sessel.
„Wie wäre es mal mit einem neuen Programm? Martha, die Weihnachtselfe, verwandelt den mürrischen Frederick für heute in einen überaus hilfsbereiten Freund, der es kaum erwarten kann, dass es Weihnachten wird, um den armen Diether nur einmal vor dessen Tyrannei zu bewahren“, kontert Diether.
„Wenn du mir ein schickes Elfenkostüm besorgst, mache ich das gerne für dich, mein Liebster. Aber bitte mit viel Glitzer und Goldsternen, und ein Diamantdiadem will ich auch haben. Und einen Zauberstab brauche ich auch, sonst kann ich dir deinen Wunsch leider nicht erfüllen“, geht Martha auf Diethers Vorschlag ein.
„Kann ich dir sonst noch irgendwelche Kindheitswünsche erfüllen, Gnädigste?“, führt Diether das Spielchen weiter.
„Ach, du bist heute wieder so gut zu mir, mein allerliebster Freund“, entgegnet Martha gespielt theatralisch.
Mariola beginnt das Spiel zwischen den beiden zu nerven.
„Am Schluss eures Streits hängt die Beleuchtung, und das ist doch das Wichtigste. Wenn du heute Abend alles alleine machst, bist du am Ende sicherlich zunächst begeistert, dass du deine Ruhe hattest. Aber kurze Zeit später holt dich die Unzufriedenheit ein, weil du dieses traditionelle Erlebnis in diesem Jahr nicht mit deinem besten Freund teilen konntest“, begibt sich Mariola auf die Schlechtes-Gewissen-Schiene.
„Ich rede davon, dass ich das gerne mal in Ruhe machen möchte, ohne dass jemand ungefragt seine schlechte Laune bei mir ablädt“, gibt Diether jetzt genervt von sich.
Er trinkt seinen Kaffee zu Ende und macht sich auf den Weg ins Büro. In den letzten vier Wochen vor Jahresende wartet die meiste Arbeit auf ihn, denn das Telefon steht dann selten still. Komischerweise nutzen die Menschen dann weniger das E-Mail-System für ihre Bestellungen, sondern rufen ihn nur deshalb an, weil sie jemanden zum Reden brauchen.
Mindestens eine Kundin fragt nach seinem Wohlergehen, nur um dann darauf hinleiten zu können, wie schlecht es ihr gerade ergehe, weil ihre Beziehung in die Brüche gegangen sei und sie nun an Weihnachten alleine wäre. Um anschließend darauf hinzuleiten, was für eine sympathische Stimme er habe, so sanft und liebevoll. Diether verkauft Hundefutter und tut dies nicht besonders gern, was man als Anrufer seiner Stimme anhören müsste. Wenn er in diesem Moment jedoch an seine Einsamkeit denkt, ist er einen kurzen Augenblick geneigt, ein Gegenkompliment zu erwidern und die sich bietende Chance auf ein zweisames Weihnachten zu ergreifen, doch dann schüttelt er den Gedanken beiseite, indem er wild mit dem Kopf wackelt, und sagt sich, er wolle kein Weihnachtslückenbüßer sein und beendet das Gespräch.
„Vielleicht erleben wir heute Abend mal etwas Neues“, überlegt Mariola laut.
„Wie, was Neues?“, frage ich, weil ich ihr nicht ganz folgen kann.
„Na, Diether und Frederick. Ich bin ja so gespannt, ob er es ihm wirklich sagt“, erklärt sich Mariola aufgeregt.
„Ach, das meinst du. Spätestens heute Abend wird deine Neugier befriedigt sein“, sage ich unbeeindruckt.
Ich finde es gut, dass Diether mal ausspricht, was ihn stört, aber ich weiß auch, dass er es Frederick nicht sagen wird. Seine Freundschaft zu ihm ist ihm viel zu wichtig, als dass er sich vor Weihnachten richtig mit ihm verkrachen möchte. Für mich ist ganz klar, der ewig gleiche Weihnachtsstress zieht heute Abend wieder bei mir ein. Und das liebe ich. Der Streit zwischen den Männern beim Anbringen der Weihnachtsbeleuchtung ist mein ganz persönliches Einläuten einer besinnlichen Weihnachtszeit.
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