In einem einstündigen Vortrag über Dummheit hatte meine mütterliche Freundin eine Litanei an Vorwürfen von mir über sich ergehen lassen, sodass sie sich am Ende für ihr Verhalten geschämt hatte. Und dumm hatte Martha sich wirklich angestellt. Sie hatte ihre Reise in eine andere Welt nicht richtig geplant. In ihrer Vorfreude hatte sie vergessen, das Küchenfenster zu schließen, durch das das Gas hinausziehen konnte. Seitdem hatte ich es Martha zur Auflage gemacht, jeden Tag in meiner Buchhandlung zu erscheinen, um sich selbst vor einer großen Dummheit zu bewahren.
Ich stelle ein Tablett mit Kaffee, Wasser, Milch, Zucker und Tassen mit Löffeln auf einem Tischchen vor Martha ab.
„Martha, ich muss mal eben ins Lager und die Weihnachtsdeko rauskramen“, sage ich beim Abstellen, damit sie weiß, wo ich zu finden bin, falls sich ein Kunde zu früh in meinen Laden verirren sollte.
Meine ältere Freundin registriert wie immer, was ich sage, sieht sich aber nicht genötigt, mir zu antworten. Für sie ist es gerade viel wichtiger Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes und Dr. Watson in Dartmoor auf ihrer Suche nach dem grauenhaften Hund von Baskerville zu begleiten.
Hinter meinem Tresen führt eine Tür zu den weiteren Räumlichkeiten, die aus einer winzigen Küche, einem genauso kleinen Bad und einem Lagerraum bestehen. Die Tür meines Abstellraumes liegt direkt gegenüber der Tür, die in die Buchhandlung führt.
Ich betrete mein Lager und muss erst mal viele Kisten hin und her räumen, um mir einen Weg zu meinen Weihnachtssachen zu bahnen. Den Raum betrete ich sehr ungern, denn es befindet sich auch die Heizungsanlage dort, die ihn im Winter so extrem aufheizt, dass man schnell das Gefühl bekommt, an einem Saunagang beteiligt zu sein. Deshalb ist es mir ein großes Anliegen, ihn so oft wie möglich zu meiden.
Als sich die ersten kleinen Schweißtropfen auf meiner Stirn sammeln, überlege ich kurz, ob ich mein Vorhaben wieder abbrechen sollte. Das Ergebnis meiner Überlegung spricht sich gegen mich aus. Meine Buchhandlung, ohne das übliche Bling-Bling ins neue Jahr zu entlassen, das würde mir der eine oder andere Kunde letztendlich doch übel nehmen. Manchmal waren sie wie Bücher mit sieben Siegeln, die es erfordert zu entschlüsseln, so wie ein Kunde vom letzten Monat.
Manche Besucher meines Ladens haben nicht nur eine ganz genaue Vorstellung von dem, was sie gerne kaufen wollen, sondern gehen auch davon aus, ich könne bei ihrem Eintreten in die Buchhandlung direkt erahnen, was sie von mir erwarten, ohne dass sie sich in irgendeiner Form bezüglich ihres Anliegens äußern müssten.
Also ergab es sich, dass ein Kunde und ich uns schweigend gegenüber standen, bis dieser unsicher fragte, ob ich ihn nicht bedienen wolle. Ich erwiderte ganz freundlich, er müsse mir schon verraten, was er denn suche, damit ich sein Problem eventuell lösen könne. Anstatt seinen Wunsch zu äußern, meckerte er los, er hätte kein Problem, und wenn doch, würde er zu einem Psychiater gehen und nicht in einen Buchladen. Er wolle lediglich ein Buch kaufen.
Während der vermeintliche Kunde die Lautstärke seiner Stimme erhöhte, blieb ich dagegen immer noch freundlich, stimmte ihm zu und fragte ihn, welches Buch er denn gerne hätte. Da er sich aber so in Rage geredet hatte und äußerst wütend über mein Verhalten war, hatte er ganz vergessen, welches Buch er eigentlich haben wollte. Weil ihn das dann noch mehr aufregte und er kurz davor war, irgendetwas zu zertrümmern, so schien es mir, verließ er mit knallender Tür mein Zeilenreich und schimpfte auf der Straße weiter vor sich hin und schoss dabei eine leere Getränkedose auf die Straße.
Ein vorbeifahrendes Auto kollidierte leicht mit dem fliegenden Gegenstand, was den Fahrer des Wagens wiederum in Wut versetzte und dieser dann mit quietschenden Reifen mitten im Berufsverkehr anhielt und total aufgebracht sein Auto verließ. Ohne groß zu reden, gingen die beiden Männer aufeinander los.
Am Ende stellte sich heraus, dass auch der Fahrer, dessen Fahrzeug nicht einen Kratzer abbekommen hatte, er dagegen aber reichlich, nur auf so eine Gelegenheit gewartet hatte. Er hatte schon seit Stunden unter Strom gestanden, wegen einer Sache, die ihm auf der Arbeit schlechte Laune bereitete. Die fliegende Dose gegen seinen schicken Mercedes war für ihn die Gelegenheit, den angestauten Frust zu entladen.
Das Spektakel auf der Straße war so spannend gewesen, dass sogar Martha ihren Schmöker zur Seite gelegt hatte. Gaffend hatte sie mit mir am Schaufenster gestanden und insgeheim Partei für den Autofahrer ergriffen. Sie mochte keine Menschen, die sich gerne mit ihren protzigen Autos zur Schau stellten, aber dieser hier hatte sie ein bisschen an Max Schmeling erinnert, den sie seit ihrer Jugend sehr verehrte. Eigentlich interessierte sie sich für keinen Sport, aber Boxen fand sie schon immer ganz aufregend.
Ein einziges Mal hatte sie einen richtigen Boxkampf gesehen. Der hatte jedoch nicht in einer Halle mit Boxring, Richter, zwei Akteuren und vielen Zuschauern stattgefunden, sondern auf der Straße. Es war ein spontaner Straßenkampf gewesen. Martha war aus dem Kino gekommen, und davor hielten sich zwei Gruppen junger Männer auf, die sich übel beschimpft hatten. Es war einer der typischen Revierkämpfe, die zu der Zeit zwischen einigen Banden geherrscht hatte, die der Ansicht waren, die Stadt gehöre ihnen allein.
Ein großer dunkelhaariger Typ mit schlaksiger Figur war vom Anführer seiner Gruppe zum Kampf Mann gegen Mann bestimmt worden. Die anderen hatten einen Stämmigen mit einer hässlichen Narbe an der Stirn geschickt, die ihm Ähnlichkeit mit Frankenstein verlieh, in den Ring, von dem Martha sich gefragt hatte, wie er dem ersten Schlag des Großen ausweichen wolle. Die beiden Kämpfer hatten nicht lange gefackelt und schlugen sich wechselseitig nieder, bis der Große am Ende reglos liegen geblieben war. In dem Moment hatte Martha sich unsterblich in den reglosen Kämpfer verliebt.
Diese unsterbliche Liebe hatte genau zwei Wochen gehalten, weil ihr großer Kämpfer schon der nächsten jungen Dame imponierte. Martha hatte er mit einem einzigen Satz „Ich hab genug von dir!“ verlassen, und er hatte sich dann seiner neuen Eroberung gewidmet.
Marthas Enttäuschung hatte einen Tag lang gedauert, bevor sie sich schnell mit dem nächsten Kämpfer einer anderen Straßengang getröste. Liebend gern hatte sie ihrer neuen Eroberung das eine oder andere über anstehende Aktivitäten ihrer verflossenen Liebe verraten.
Martha war kein Kind von Traurigkeit gewesen, das Gegenteil traf es da genauer. Sie hatte gelernt ihre Schönheit gezielt als Macht einzusetzen, um sich die Männer gefügig zu machen. Ihr Körper war zu einer Art Superwaffe mutiert, mit der sie das andere Geschlecht in den Wahnsinn treiben konnte. Ihr war ganz genau bewusst gewesen, wie kurz ihr Rock bei welcher Art Mann zu sein hatte.
Diese Zeit ihres Lebens hatte sie in vollen Zügen genossen und lernte dadurch ihre Unabhängigkeit zu lieben. Eine ehrbare Frau zu sein, war für Martha kein Lebensziel gewesen. Sie hatte sich auch nie nach einer schreienden Horde Kinder gesehnt, die sie zu ehrbaren Bürgern erziehen müsste. Doch mit zunehmenden Alter wäre es manchmal schön gewesen, einen Menschen an seiner Seite zu haben, der einem die Einsamkeit vertreiben könnte.
Ich schleppe eine Weihnachtskiste nach der anderen nach vorne in den Laden und stapele sie direkt neben dem Verkaufstresen. Nach der letzten wische ich mir mit dem Ärmel meines geringelten Pullovers die winzigen Schweißperlen von der Stirn und gieße mir den ersten Kaffee des Morgens ein. Eine halbe Tasse, auf die ein großer Schwall Milch folgt.
Die Eingangstür öffnet sich wieder, und Mariola und Diether gesellen sich frierend in unsere kleine Runde. Im Gegensatz zu Frederick sind sie in dicke Wintersachen gekleidet. Diether erinnert mich mit seiner Bommelmütze und seinen braunen langen Haaren, die ihm inzwischen bis zu den Schultern reichen, an Janoschs Kaspar Mütze . Wie in jedem Winter verwandelt sich Mariola in ihrem dicken langen Steppmantel in eine unscheinbare Persönlichkeit. Mit ihren etwa Einmetersechzig und fünfzig Kilogramm versinkt sie förmlich in ihrem Kleidungsstück. Am liebsten würde ich ihr dann einen Rettungsring zuwerfen, damit sie nicht in ihm ertrinkt. Aber meine Freundin friert so schnell, dass es ihr völlig egal ist, wie sie mit ihrem Mantel aussieht, sie will es nur warm haben.
Читать дальше