Auch Rigo war vom Naturschutz begeistert, hatte aber aufgrund der Erfahrungen einiger Auslandsreisen seine Euphorie gebremst und seine Meinung angepasst, sodass er sein derzeitiges, illegales Vorhaben ohne Gewissensbisse angehen konnte. Rigo suchte seine Sachen zusammen und packte abends noch seinen Rucksack. Nur den Kompass nicht vergessen. Wenn Nebel aufkommen würde, wäre er sonst im Watt verloren. Er würde im Kreis laufen, bis die Flut dem Herumirren ein Ende bereitete. Vier Liter Wasser in Plastikflaschen packte Rigo ein. Wenn er dort etwas länger bleiben müsste, wollte er nicht die Notrationen in der Barke in Anspruch nehmen. Und natürlich etwas zu Essen, selbst fabrizierten, wohlriechenden Sonnenschutz, Taschenmesser und Feuerzeug. Halt, noch Verbandszeug, für den Fall, dass er in eine Muschel treten und sich verletzen würde. Gummistiefel und Spaten wurden noch auf den Rucksack geschnallt und fertig war das Überlebenspäckchen.
Der Morgen kam und Rigo war schnell auf den Beinen, kochte Kaffee und frühstückte ausgiebig. Dann machte er sich auf den Weg. Spätsommerlicher Morgentau in den Salzwiesen auf der Seeseite hinter dem Deich kündigte den Herbst an. Bald wäre ein solches Vorhaben in diesem Jahr nicht mehr möglich gewesen. Dort wo das Siel durch den Deich brach und die Salzwiesen eine Abbruchkante bildeten, betrat Rigo den Wattboden der immer noch recht feucht war, da die Ebbe noch nicht sehr lange eingesetzt hatte. Das Wasser war noch emsig dabei abzulaufen und es gluckste und plätscherte um ihn herum. In weiter Ferne, gerade den Horizont überragend war verschwommen die Barke des blauen Sandes zu erkennen. Rigo fasste sie ins Auge und marschierte los. Er lief barfuß, da er wusste, dass in dieser Ecke nur wenige Muscheln zu zertreten waren und weil die Gummistiefel sicher im wässrigen Schlick des ablaufenden Wassers stecken geblieben wären.
Rigo blickte voraus und gewahrte in der Ferne zwei Gestalten, die etwa eine Meile voraus in einem Priel wateten. Er war nicht allein. Mit der Zeit wurden die beiden Menschlein deutlicher und auch sie hatten Rigo nun entdeckt. Beide winkten vergnügt, als er näherkam. Er kannte das Pärchen, das da bis zu den Hüften im Priel stand. Es waren der Knecht und die Magd vom Rosenhof, die Wohl schon vor ihm den Marsch ins noch feuchte Watt angetreten hatten. „Was macht ihr denn da im Wasser?“ rief Rigo ihnen zu. Die beiden waren mit Keschern, einem großen Sieb und mehreren Beuteln bewaffnet. „Wir fangen uns Krabben und machen Butt petten fürs Mittagessen.“ Sie schoben die feinmaschigen Kescher über den Grund des Prieles und hatten bereits reichlich Krabben in den Beuteln verstaut, die baldmöglichst gekocht werden mussten, um nicht zu verderben. Das Butt petten war eine Kunst für sich. Trat man im Priel auf eine Scholle, musste man auf dem sich bewegenden, zappeligen Plattfisch stehen bleiben. Dieses war wegen der Schrecksekunde nicht einfach. Manch Fisch entkam, aber wenn man standhaft blieb und nach unten langte, hatte man die gute Mahlzeit in Händen. Der Schollenbeutel der beiden war auch nicht mehr leer und so wateten sie aus dem Priel heraus, um den Heimweg anzutreten.
„Du hast den Spaten dabei?“ meinte der Knecht. „So weit draußen Wattwürmer ausgraben? Lass dich nicht auf dem blauen Sand erwischen und viel Erfolg.“ Die drei plauderten noch ein paar Minuten miteinander und zogen dann ihrer Wege. Rigo durchquerte mehrere Priele. Den einen musste er fast durchschwimmen und den Rucksack auf dem Kopf balancieren. Auf der anderen Seite war eine Muschelbank und Rigo war froh, dass er die Gummistiefel dabei hatte. Also die Füße kurz gewaschen und vom Schlick befreit und dann mit den bloßen Füßen in die Stiefel, um das einschneidende Hindernis zu überwinden. Dahinter war das Watt bereits fast trocken. Rigo zog die Stiefel wieder aus und genoss die kostenlose Fußsohlenmassage, die ihm das von den Wellen geriffelte Watt zukommen ließ.
Die Barke des blauen Sandes erschien kaum näher als vor einigen Stunden, aber wenn Rigo zurückblickte war die Deichlinie fast am Horizont verschwunden. Es musste bald Ebbe sein und wenn dann die Tide kenterte, würde das Wasser wieder auflaufen. Leichter Wind, der wohl das baldige Ende der Gutwetterperiode ankündigte, kam auf. Rigo beeilte sich und nun kam die Barke rasch näher.
Er hatte es geschafft. Die eiserne Leiter war ein willkommener Halt in der Einsamkeit des weiten Wattenmeeres. Rigo erklomm die wohl fünfzehn Meter bis zu der mit Riegeln gesicherten Tür des Rettungsraumes, öffnete diese und warf seinen Rucksack hinein. Dann kletterte er selbst hinein und sperrte die ihm nicht wohlgesonnene Umwelt vorerst aus, um sich von dem Marsch zu erholen und etwas zu Essen und vor allem zu trinken. Nach einer Weile zog es ihn hinaus, um endlich seiner ersehnten Arbeit nachzugehen. Die Socken und die Stiefel angezogen, damit er mit dem Spaten arbeiten konnte, und dann auf zur Schatzsuche. An der blauschimmernden, schlickigen Kante des Sandes setzte er seinen Spaten an. Große und kleine Stücke des ersehnten Bernsteines verschwanden in seinem Beutel und um ihn herum holte sich die See langsam das vermeintliche Land zurück. Die Flut war da und mit ihr ein auffrischender Wind, der sich anschickte ein erster Herbststurm zu werden.
Sorgenvoll, aber mit vollem Beutel schaute Rigo in die Runde. Sollte er sein Vorhaben doch zu spät im Jahr angegangen sein? Rigo machte, dass er in sein Notquartier kam und sperrte hinter sich die Tür zu und das Wetter aus. Im Schein der Notbeleuchtung breitete Rigo seine Beute zur Begutachtung aus. Neben den vielen kleineren Stücken, die feingeschliffen später Schmuckstücke bestücken würden, hatte er auch seltene, weißliche Bernsteine und einige große, goldschimmernde mit Einschlüssen, welche nicht nur als Schmucksteine einen Wert hatten, sondern auch naturhistorisch die Wissenschaft weiterbringen könnten. Aus einem Bernstein heraus schaute ihn ein garstig aussehendes Insekt an, welches vor Millionen Jahren im Hartz kleben geblieben und überdeckt worden war.
Versonnen sah Rigo das Insekt an und es war als wenn das tote Tier zurückstarrte. Der Wind draußen heulte und in Rigo regte sich etwas, was ihn in schöner Regelmäßigkeit zum Jahresende hin überfiel, Schwermut. Schwermut, die in Fernweh und Weglauftendenzen endete. Aber das Naheliegende, das Überleben, war nun erst einmal wichtiger. Eigentlich wollte Rigo nach acht Stunden wieder aufbrechen, aber die Flut würde aufgrund des Nordweststurmes nicht weit genug zurückgehen. Er würde eine weitere Tide ausharren müssen. Rigo teilte sich seine Vorräte vorsichtshalber für drei Tage ein. Dann verrichtete er aus der offenen Tür heraus seine Notdurft und war froh, dass diese zur windabgewandten Lee-Seite hin eingebaut war.
Rigo legte sich auf das Notbett, deckte sich mit den Notwolldecken zu und fiel in einen unruhigen Schlaf. Er träumte erst vom Reisen, aber dann von allem, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass er es über die Jahre doch entbehrte. In mehreren Traumabschnitten wärmten ihn seine unbewussten Gedanken so sehr, dass seine Restbekleidung und sogar die Wolldecke der Notunterkunft feucht wurden.
Am Morgen tobte der Sturm weiterhin unvermindert und die Flut war wie zu erwarten nicht ausreichend zurückgegangen, um den Heimweg anzutreten. Also die nächtliche Traumsauerei beheben, weiter dösen, ab und zu etwas trinken, essen und abwarten. Die nächste Möglichkeit zum Abmarsch würde mitten in der Nacht liegen. Es ging auf Vollmond zu und bei ausreichender Sicht und weniger Wind könnte der Rückweg offen sein. Rigo stellte sich seinen inneren Wecker. Er war darauf trainiert, zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen. Dann verdöste er den Tag und schaute ab und zu durch das Bullauge seiner Unterkunft, um nach dem Wetter zu sehen.
Wieder überfiel ihn das Fernweh und er träumte erneut von vergangenen und künftig möglichen Reisen. Die Träume endeten wieder in einem unruhigen, aber dieses Mal trockenem Schlaf. Als er mitten in der Nacht erwachte, blickte er klarer in die Zukunft und auch klarer in die Nacht. Der Sturm hatte sich gelegt und diese völlige Flaute wirkte unheimlich. Es war dunstig und ein annähernd gefüllter Vollmond lugte durch die Wolken. Es würde sicher Nebel aufkommen, dachte Rigo. Aber eine bessere Möglichkeit, die gastliche Stätte zu verlassen, würde sich wahrscheinlich nicht bieten. Also rasch klar Schiff machen. Alle Notfallsachen wieder an ihren Platz legen und Abmarsch. Der Rucksack war leichter geworden. Wo er sich vorher mit Trinkwasser geschleppt hatte, steckte nun der leichte Beutel mit dem Bernstein.
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