Der Adler kommt auch in anderen apokalyptischen Geschichten vor, in Daniel und Hesekiel . Dieser Adler, von dem werden merkwürdige Dinge erzählt, auch wieder Begriffe, die eigentlich nur zu einer Traumwelt gehören. Ich begnüge mich nicht mit der Traumwelt, also nehme ich die ganze unbewusste Welt des Menschen, mit dem ganzen Verborgenen im Menschen. Das Verborgene ist soweit unbewusst, dass wir es niemals übersetzen können in das Bewusste, selbst ins Unbewusste dringt es nicht vor, das uns nähersteht, als das Verborgene. Das Verborgene, könnte man sagen, ist Unbewusstes vom Unbewussten, weit, weit weg. Doch in den Geschichten aller Kulturen finden wir die Botschaften des Verborgenen.
Es wird erzählt, von einer Gämse, einem Steinbock, der ganz hochsteigt im Gebirge und versucht so hoch zu kommen in der Welt, wie man sich nur vorstellen kann. Also nicht wie wir heute sagen würden, im Raum, es müsste eine Rakete sein, denn es bedeutet hier, so hoch wie es in der Vorstellung des Menschen möglich ist. Im Übertragenen Sinne ist es vollkommen gleichgültig, ob es Raketen oder Flugzeuge sind, es sind nur Übersetzungen in den technischen, `magischen´ Alltag. Diese Gämse steigt hinauf, und wenn sie ganz oben ist, dann gebiert sie ihr Junges, die Frucht, und lässt zur gleichen Zeit das Junge fallen, es stürzt hinab. Merkwürdige Traumvorstellung, wird aber als eine mythologische Tatsache in der jüdischen Überlieferung erzählt, aber auch in anderen Überlieferungen kommt es ein bisschen modifiziert vor. Dann kommt aber der Adler und fängt dieses abstürzende Junge auf seinen Flügeln auf und bringt es sicher zur Erde. Wie kann der Adler genau dort an der Stelle sein, wo das Junge herunterfällt? Das ist merkwürdig – ja, schon bevor es fällt, hat es schon seine Stütze, seinen `Auffänger´. Es wird darauf hingewiesen, wenn wir die Psalmen lesen, Psalm 145 hat eine Reihenfolge nach dem hebräischen Alphabet, der erste Vers fängt mit dem Alef an, der zweite Vers mit dem Beth, usw. Merkwürdigerweise stimmt es nicht ganz, denn dort nach dem hebräischen Buchstaben Mem, die 40, welcher auch für den Begriff die Zeit, das Wasser steht, sollte nachher der Buchstabe 50 kommen, das hebräische Zeichen Nun. Nun ist aber auch das Zeichen für das Wort Fallen (Fallen fängt mit Nun an). Es will sagen, diese Zeichen bedeuten, der Fall dieses Jungen, der Frucht des Bockes, der fällt. Der Mensch möchte immer wieder diese Hybris. Hinaufsteigen, er erhält oben eine Frucht, hat aber mit der Frucht merkwürdigerweise keine Barmherzigkeit, er gibt sie der Welt preis, und die Frucht, das Kind fällt – er kann nichts dafür. Diese Gämse bzw. der Steinbock wird an einer Spitze geboren und es muss fast fallen. Dann steht deshalb, bevor der Vers mit der 50, dem Buchstaben Nun kommt, der Vers mit dem Buchstaben 60 und dieser Vers fängt an mit den Begriffen `unterstützen´, dem Fallenden `Stütze geben´. Alles was fällt hat – vorher schon – das Auffangen, das ist ein Gesetz kann man sagen. Es ist schon vor weg die Heilung da, der Adler fliegt und nimmt es als Retter auf seinen Flügeln auf. Zufall kann man sagen, ja, es fällt dem Adler zu, er fängt es auf und bringt es heil hinunter. Die Tierwelt , als Erlebnisse, Erfahrungen im menschlichen Leben, dass wir das Gefühl in uns haben, etwas kann uns schützen.
Der Adler hat eine merkwürdige doppelte Funktion, der hebräische Name נשר ‹nescher› ist tatsächlich der Adler, aber zu gleicher Zeit auch ein anderes Tier, der Geier, der Aasgeier. Das Tier, welches das Tote spürt, aber im Gegensatz zum Adler der auffängt, stürzt sich der Geier auf das Aas um es zu fressen. Diese beiden Bilder sind Bilder des gleichen Wortes, denn in Hebräisch ist Geier und Adler ‹nescher›, man kann nur aus dem Zusammenhang wissen, meint man einen Geier oder einen Adler ? Das bedeutet in den Überlieferungen, in vielen, vielen Erzählungen, dass Es im Menschen selber ist. Hast du bei dir dieses Gefühl: Ich falle, es gibt keine Rettung – dann ist der Geier da. Hast du aber bei dir das Gefühl: Ich falle, aber es macht doch nichts, es wird schon gut sein – dann bedeutet es, der Adler ist da.
Hier ist im Menschen apokalyptisches da, ein tiefer Fall in den Tod, im Albtraum ohne Stütze. Im Albtraum ist zum Glück dann immer das Erwachen da, mit oder ohne Schrei. Dieses Gefühl im Menschen, es ist wie es auch ist, ich falle aber es ist schon gut, dann ist der Adler das Befreiende, sonst ist der Adler das Todbringende. Nach der Überlieferung sagt man, der Adler der Römer sei der Todesadler, der Geier ; der Adler des Königs ist der richtige Adler, der weiße Adler. Man unterscheidet hier merkwürdigerweise im Menschen selber, wie stehst du dem gegenüber, wie man dem Erlöser gegenübersteht. Stehst du so, dass du jetzt den weißen Adler erkannt hast, der dich auffängt, oder ist es für dich der Tod. Du selber entscheidest, was es ist – du bist es.
Und so stehen dann diese Tiere, dieser Drache und die anderen Wesen die dort eine Rolle spielen, auch als Anwesenheit im Menschen. Das Tier ist auf dem Weg zum Menschen, das Tier sehnt sich vom Menschen angenommen zu werden, sehnt sich auch vom Menschen erlebt zu werden. Deshalb sind in der Genesis im 1. Kapitel, die Tiere schon vor dem Menschen da, der Mensch schließt die Reihe. Im 2. Kapitel der Schöpfungsgeschichte, wo Gott nicht als der Richter allein vorkommt, sondern auch als der Barmherzige, der Gütige , wo er im doppelten Namen steht (Elohim in der ersten Schöpfungsgeschichte und JHWH Elohim in der zweiten, siehe GBW, S 39; SIW, S. 55), dort steht der Mensch zuerst und dann kommen die Tiere zu ihm. Es ist eine umgekehrte Reihenfolge und zeigt, dass unsere Herkunft eine doppelte ist. Wir haben die Herkunft, in der das Tier sozusagen vor uns ist, auf dem Weg zu uns ist, nach den Gesetzen (auch in der Evolutionstheorie). In der zweiten Geschichte, die Geschichte im Zeichen der Güte der Barmherzigkeit, sind wir da und bestimmen die Möglichkeit, dass das Tier sein kann. Das eine zeigt das Gesetzmäßige, das andere das Barmherzige, Gütige, dass das Tier durch u n s seinen Ort, seinen Namen bekommt und vollständig seine Anwesenheit durch uns manifestieren kann.
Dieses Tier ist für uns etwas Merkwürdiges. In der ersten Geschichte ist das Tier, das am 6. Tag vor dem Menschen kommt, der Fall. Denn das listigste der Tiere ist die ‹nachasch›, die Schlange, Wasserschlange, der Drache. Schlange bedeutet auch nicht, das Tier, das wir so sehen. Die Schlange im Sinne der Bibel ist etwas, das aus der Natur uns nicht gönnt, dass wir das erleben. Man erklärt das, weil die Welt auf Liebe gebaut ist, könnte die Liebe nur sein und verstanden werden, wenn dem gegenüber auch Hass und Neid wäre. Hass und Neid gehören zum Erlebnis der Liebe. Und so sehen wir, dieser Hass drückt sich aus, in einem Wesen, dass uns also nicht gönnt hier zu sein, wie wir uns nicht gönnen oder manchmal auch anderen nicht gönnen – |›lieber haben wir, dass der andere einmal gequält wird, dann sieht er einmal, wie die Realität ist, er muss das einmal kennenlernen‹| – und andererseits , gerade weil die Gefahr besteht, dass er einmal sieht wie die Realität ist, will ich das verhüten und werde zusehen, dass er vorher aufgefangen wird, und nicht: |›Erst einmal reinfallen muss, dann mal sehen wie es ist und dann brav und zitternd zu mir kommt: Ach lieber Herr, ich habe das nicht gewusst und werde ihnen jetzt immer gehorchen‹|. Hier im Menschen ist etwas Merkwürdiges, es ist dieses Animalische, es zeigt die Schlange in uns. Deshalb wird die Schlange listig genannt, hebräisch ‹arum›, das ist exakt das gleiche Wort wie nackt ‹arom›. Dort, wo erzählt wird, dass die Menschen nackt sind, könnte man genauso übersetzen, sie seien listig (statt: … und sie erkannten, dass sie nackt waren, 1Mo 3:7), dort wo die Schlange als listig genannt wird (Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Feld … 1Mo 3:1), könnte man mit nackt übersetzen. Mit anderen Worten, wir interpretieren im Übersetzen. Das ist auch ganz richtig, aber wir sehen, es ist das gleiche Wort. Warum ist die Schlange, wenn sie nackt ist, listig? Weil das Animalische sich nicht nackt zeigen kann, das wäre dann, als ob das Prinzip: Wesen und Erscheinung, das Gleiche ist . Dass der Mensch nackt ist, ja weil er, mit seinem Dasein im Bild Gottes, einfach den Ausdruck des Göttlichen hat. Man meint das Animalische im Menschen, wenn es sich nackt zeigt, ist es Hass. Der Neid des Animalischen, das auch in sich das Dämonische trägt, das nicht gönnt. Dass der Mensch das ist, das will fast gesetzmäßig sagen: Wenn Liebe ist, wenn es Liebe verstehen kann, dann gibt es auch Hass. Wie groß ohne klein nichts bedeutet, wie gut ohne böse nichts bedeutet, so bedeutet Liebe ohne die Potenz des Hasses auch nichts [78B2].
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