1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 »Oh, entschuldigen Sie«, flüsterte die Fremde und lächelte verlegen. »Ich habe Sie nur von den Fesseln befreit.« Sie ließ das Messer sinken, blickte sich verwirrt um und legte die Klinge dann auf das Nachttischchen neben Amber. Amber setzte sich auf. Cailean lag mit dem Rücken zu ihr und schnarchte leise.
»Kommen Sie!« Die Fremde winkte und zeigte zur Tür. Amber begriff, sie wurde soeben befreit. Einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul, hatte schon ihre Großmutter immer wieder gesagt. Ein letzter Blick auf den Piraten, um sicherzugehen, dass er auch wirklich schlief, dann schob sie sich vorsichtig aus dem Bett und bemühte sich, keine unvorsichtigen Bewegungen zu machen, die die Matratze erschüttern und den Mann, mit dem sie das Bett geteilt hatte, wecken würden.
Die schlanke Dunkelhaarige stand in der Tür und trieb Amber mit hastigen Winkbewegungen zur Eile an. Als beide auf dem Flur standen, schloss sie leise die Tür und lächelte. Sie musterte Amber von oben bis unten und schien unsicher zu sein, was sie jetzt mit ihr anstellen sollte.
Amber lächelte vorsichtig zurück und freute sich, soweit gekommen zu sein. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass der Fluchtplan der Anderen ein Auto und etwas Geld beinhaltete. Und vielleicht ein paar bequemere Sachen. Sie trug noch immer das schwarze Kleid vom gestrigen Abend, und das war absolut ungeeignet für eine Flucht vor einem muskulösen, gut aussehenden Piraten.
Die Frau schien sich endlich entschieden, was sie mit der befreiten Geisel tun sollte, griff nach Ambers Hand und zerrte sie hinter sich einen langen Flur entlang, auf dem sich rechts und links mehrere Türen befanden. Zu wenige für ein großes Hotel, aber genug für ein kleineres.
Also hatte Cailean sie doch in ein Hotel entführt, stellte Amber zufrieden fest. Und die Dunkelhaarige war sicher eine Angestellte, die Amber jetzt zur Flucht verhalf. Amber warf einen kurzen, aber etwas neidischen Blick auf die altertümlich wirkenden Kommoden, die sich jeweils zwischen zwei Zimmertüren befanden. Schon immer hatten die wundervollen Möbel aus der Viktorianischen Zeit einen besonderen Reiz auf sie ausgeübt. Leider hatte Eric nie ein Interesse daran gehegt. Er wollte moderne Möbel ohne viele Schnörkel. In London gab es noch viele Häuser aus dieser Zeit und sie hatte gehört, dass viele auch noch mit den originalen Möbeln ausgestattet waren. Amber war sich sicher, das galt auch für dieses Hotel.
Vor einer großen Doppeltür aus dunklem Holz blieb die Frau stehen. »Das ist mein Schlafzimmer. Also, das von mir und meinem Mann. Er ist gerade nicht da. Ich habe Ihnen Kleidung auf das Bett gelegt und im Bad finden Sie alles, was Sie zum Duschen brauchen.« Sie öffnete die Tür und wandte sich wieder Amber zu. »Ach so, ich bin Samantha, die Schwägerin von diesem ungehobelten Klotz. Cailean hat Sie in unser Haus gebracht.«
Sie traten in ein Schlafzimmer, das so groß war, dass Ambers ganze Wohnung hineingepasst hätte. »Wow«, seufzte Amber. »Das ist nur ein Schlafzimmer? Kein Apartment?« Sie schaute sich um. Sie war so erstaunt, dass sie erst gar nicht überzog, was Samantha gerade gesagt hatte. Sie ist Caileans Schwägerin? Und das hier ist kein Hotel? Amber ließ die Schultern sinken. Aber dann fiel ihr ein, dass das noch lange nicht bedeutete, dass Samantha gut hieß, was ihr Schwager da getan hatte, nämlich eine Frau zu entführen. Sie sah sich weiter im Zimmer um.
Alles war in erdigen Farben eingerichtet. Ein riesiges Himmelbett mit brokatfarbenen Vorhängen stand mitten im Zimmer und schrie Amber regelrecht zu, dass dieser Raum wirklich nur ein Schlafzimmer war.
»Nein, kein Apartment.« Samantha schwebte elegant auf das Bett zu und hielt ein paar Jeans und eine schwarze Seidenbluse vor sich hin. »Ich schätze, Sie haben ungefähr meine Größe. Das sollte also passen. Das Bad ist hinter dieser Tür.« Samantha nickte in Richtung einer dunklen Tür, die so versteckt in einer Ecke war, dass Amber sie vorher gar nicht bemerkt hatte.
Eine hübsche Frau, dachte Amber und musterte Samantha. Was würde sie dafür geben, wenn sie sich auch so elfenhaft bewegen könnte. Sie selbst kam in ihren Bewegungen eher einem Bauern gleich. Amber hatte Frauen wie Samantha schon immer beneidet. Sie hätte genau das selbe wundervolle, bunte Sommerkleid tragen können und würde nicht halb so elegant darin aussehen wie Caileans Schwägerin. Und sie könnte Stunden lang ihre Haare kämmen und frisieren, ihre Haare würden nie so wundervoll glänzen und glatt sein, wie die rostroten taillenlangen Haare dieser Frau. Überhaupt war diese Samantha schöner als jedes Model, das Amber je im Fernsehen über den Laufsteg hatte wandeln sehen. Ihre Haut war cremeweiß und sie hatte wundervolle Sommersprossen auf ihrer schmalen Nase und den hohen Wangen. Amber betrachtete die Jeans, die Caileans Schwägerin ihr hinhielt, und dachte traurig, dass sie wohl auch in dieser Hose keine annähernd so gut Figur abgeben würde wie diese Frau.
»Danke«, sagte sie seufzend. »Sie können mir nicht zufällig sagen, wo wir hier sind?« Amber nahm Caileans Schwägerin die Kleidung ab und steuerte auf das Bad zu.
»In London.«
»Also noch immer in London«, stellte sie erleichtert fest. Sie hatte es sich schon fast gedacht, als sie eben mit Samantha den Flur entlanggegangen war, aber es jetzt bestätigt zu bekommen, ließ einen Teil des großen Felsens auf ihrer Brust abbröckeln. Sie konnte nicht so weit weg von zu Hause sein. Aber, fiel ihr gerade ein, sie hatte ja gar kein Zuhause mehr. Ihr Ex-Freund hatte sicher noch nicht einmal bemerkt, dass sie nicht da war. Eine Träne rollte über ihre Wange. Sie war sich nicht sicher, warum sie weinte.
Weil ihr Freund fremdging, oder weil sie nicht wusste, wohin sie eigentlich sollte? Erst einmal zu meiner Mutter, dann sehen wir weiter. Bei dem Gedanken erschauderte sie. Sie konnte die Vorwürfe schon hören, mit denen sie ihre Mutter bombardieren würde. Aber etwas anderes blieb ihr kaum. Sie musste aus diesem Haus kommen, weg von dem Verrückten, der sie entführt hatte, und weg von Eric. Nach diesem Erlebnis hatte sie nicht die Nerven, sich auch noch mit ihm auseinanderzusetzen. Sie könnte natürlich Samantha um etwas Geld für ein Hotel bitten, schließlich hatte ihr Schwager sie entführt und bei der Gelegenheit ihre Handtasche nebst Handy und Wohnungsschlüsseln verloren, aber das wollte sie ihr nicht zumuten. Sie konnte schon froh sein, dass die Frau sie befreit hatte.
Das Bad war noch imposanter, als das Schlafzimmer. Der Boden war aus dunkelgrünem Marmor, die Armaturen glänzten golden und in der Ecke stand eine einladende, große Badewanne. Die hätte Amber zu gerne mal ausprobiert, aber dazu hatte sie jetzt keine Zeit. Zudem war die Dusche mindestens genauso verlockend. Sie hatte so viele Knöpfe und Knaufe, dass Amber eine Weile brauchte, bis endlich Wasser aus den vielen Armaturen in den Wänden kam. Jetzt stand Amber mit geschlossenen Augen mitten in der Kabine und wurde von drei Seiten mit Wasserstrahlen gestreichelt. Die Strahlen massierten gekonnt die Verkrampfungen der unbequemen Nacht weg. Nur die aufgescheuerte Haut an ihren Handgelenken musste von alleine heilen.
Als Amber fertig war und das Schlafzimmer betrat, erschrak sie so heftig, dass sie fast wieder rückwärts in das Bad gestolpert wäre. Der Pirat stand mit dem Rücken zu ihr vor dem großen Bett. Seine schwarzen Haare hatte er offen, irgendwie wirkten sie etwas länger so. Aber vielleicht hatte Amber sich auch getäuscht.
Amber wagte nicht, zu atmen und wollte gerade wieder im Bad verschwinden, um sich dort zu verstecken, als der Mann sich umdrehte. Warum hatte sie auch erst duschen müssen? Hätte sie nicht gleich verschwinden können? Aber irgendwie hatte Samanthas ruhige Art und diese sanfte Stimme den Wunsch nach einer Dusche in ihr geweckt. Sie hatte sich dem kaum widersetzen können. War sowas möglich? Nein!
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