Sie beugte den Kopf langsam vor und schielte um den Eingang herum auf die leere Straße. Lächelnd schalt sie sich selbst für ihre Dummheit. Das war nur eine Windböe, du blöde Kuh, dachte sie und wandte sich wieder der Tür zu.
Ein Arm schlang sich von hinten um ihre Taille, eine eiskalte Hand presste sich auf ihren Mund und dann zog sie jemand von der Tür weg. Amber zappelte in der Umklammerung, stöhnte und wehrte sich, doch ihr Gegner war so viel stärker als sie und hielt sie nur umso entschlossener gegen seinen Körper gepresst.
Ehe sie es sich versah, fand Amber sich in einer Gasse an eine Wand gedrängt wieder und der muskulöse Körper des Kerls aus der Bar drückte gegen ihren. Nicht nur, dass der Kerl ziemlich breit war, er war auch noch ein ganzes Stück größer als Amber. Amber schaffte es gerade einmal auf zwergenhafte 1,60 Meter. Der Pirat musste mindestens 1,85 Meter messen. Zumindest presste sich seine harte Brust gegen Ambers Gesicht. Er war jemand zu dem der Nachname Connell passte – keltisch für groß und mächtig -, nicht Amber.
Amber hatte ihren Nachnamen noch nie gemocht. Das war ungefähr so, als ob ein Riese Winzig heißen würde. Noch immer lag seine Hand auf Ambers Mund. Er sah auf sie herab und sein Blick bohrte sich in ihren. Er hatte ein so urwüchsig raues Gesicht, wie Amber es noch nie gesehen hatte. Alles an ihm schien die Definition von männlich zu sein. Und diese Manneskraft drückte sie gegen den rauen Putz, zwängte sie zwischen der Mauer seines Körpers und der Hauswand ein und gab Amber das Gefühl, noch winziger zu sein, als sie bisher angenommen hatte.
Sie zitterte am ganzen Körper und würde der Typ sie nicht halten, hätten ihre Knie schon lange unter ihr nachgegeben. Ihr Herz hämmerte gegen seine Brust, die Amber wie ein Schraubstock zwischen sich und der Hauswand festhielt.
Vielleicht hätte sie ihren Mageninhalt in die Ecke neben dem Container, hinter dem sie standen, erbrochen, wenn sie die Chance dazu gehabt hätte, denn ihr wurde schrecklich übel. Aus Angst? Wegen des Gestanks, der in dieser Gasse schwebte? Amber tippte auf Letzteres. Der süßliche Geruch von Verwesung lag in der Luft und Amber wollte gar nicht darüber nachdenken, was sich in den Containern befinden könnte. Vielleicht war sie nicht sein erstes Opfer? Oder der Tierarzt von nebenan hatte seine Abfälle mal wieder verbotenerweise in der Gasse entsorgt? Amber holte aus und trat dem Kerl mit ihrem Manolo gegen das Schienbein.
»Schhht. Beruhig dich! Ich will dir nichts tun.« Der Pirat nickte in Richtung Ausgang der Gasse. »Siehst du das?«, flüsterte er. Sein Gesicht war ihrem so nahe, dass sie seinen kühlen Atem auf ihrer Nasenspitze spüren konnte. Seine Hand drückte sich so fest auf ihren Mund, dass das raue Mauerwerk in ihrem Rücken sich schmerzhaft in ihren Hinterkopf bohrte. Ihr Körper war wie festgenagelt. Sie konnte sich nicht einen Millimeter bewegen.
Mit den Augen folgte sie seinem Blick, aber nur, weil sie hoffte, dort könnte jemand sein, der ihr zu Hilfe eilen konnte. Ein dunkler Schatten hob sich gegen das Licht der Straßenlaternen ab. Jemand stand da, spähte in die Gasse hinein und schien zu warten. Oder suchte er etwas? Jemand? Amber nickte vorsichtig, atmete aber tief durch die Nase ein, um die Luft hoffentlich in einem dumpfen Schrei zwischen seinen Fingern hervorpressen zu können.
»Du möchtest dem da nicht in die Fänge geraten«, flüsterte der Pirat weiter.
Amber starrte ihr Gegenüber verständnislos an. Sie wollte ihm sagen, dass sie »dem da« sicher nicht in die Fänge geraten wäre, da sie ja fast zu Hause gewesen wäre. Jetzt war sie aber ihm in die Fänge geraten, und das fühlte sich auch nicht gut an. Gut, vielleicht wäre sie »dem da« in die Fänge geraten, wenn sie die Wohnung wenige Augenblicke später wieder verlassen hätte, aber das tat jetzt nichts zur Sache. Denn woher wollte dieser Kerl, dessen stahlharter Körper mit jedem Atemzug an ihrem rieb, wissen, dass dieser andere Typ, der jetzt langsam ein paar Schritte in die Gasse machte, ausgerechnet etwas von Amber wollte?
Amber hoffte noch immer, dieser andere Typ könnte ihr helfen. Mit aller Kraft stöhnte sie gegen die Hand des Mannes, der ihr zornig noch fester die Hand auf den Mund presste und mahnend mit dem Kopf schüttelte. Vielleicht besser, jede Abwehr aufzugeben, überlegte sie. Wenn ich brav bin, lässt er mich danach einfach wieder gehen.
Amber hielt vorsichtshalber die Luft an und ihr Retter – Entführer? – nickte ihr zu, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vielleicht hatte das Erschlaffen ihrer Muskeln ihm auch gezeigt, dass sie den Kampf aufgegeben hatte. Seine Hand auf Ambers Gesicht lockerte sich. Amber hätte jetzt schreien können, aber sie tat es nicht. Da war etwas an der Art, wie dieser Schatten sich schleichend bewegte, das ihr eine Gänsehaut einjagte.
Irgendetwas sagte ihr, dass sie dem Piraten, der sie nach wie vor gegen die Hauswand presste, vertrauen konnte. Obwohl ihr schon die Tatsache, dass er aussah, wie ein Pirat das Gegenteil hätte sagen sollen. Aber vielleicht hatte Amber in ihrem Leben zu viele romantische Piratenfilme gesehen und war einfach voreingenommen. Ambers Augen bohrten sich in die des Mannes, die das wenige Licht, das von der Hauptstraße hereindrang, blitzend zurückwarfen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst.
Der Schatten war wenige Schritte von dem Container entfernt stehengeblieben hinter dem sie sich verbargen. Er kickte eine Blechdose mit seinem Fuß weg, die laut scheppernd über das Kopfsteinpflaster rollte und eine Katze aufscheuchte, die sich zwischen ein paar Säcken versteckt hatte. Laut kreischend schoss sie davon und verschwand irgendwo in der undurchdringlichen Finsternis der Gasse. Amber hätte es ihr gerne gleichgetan.
Der Schatten fauchte der Katze hinterher und das Geräusch klang so schaurig, dass Amber wusste, ihr Instinkt dem Piraten zu vertrauen, war richtig gewesen. Dieser Schatten löste in ihr etwas aus, das alles in ihr zum Krampfen brachte. Manchmal schien sie so eine Art siebten Sinn für Gefahren zu haben. Jedenfalls kribbelte etwas in ihrem Kopf, wenn sie in Gefahr war. Dieses Kribbeln hatte sie als Kind vor so mancher Dummheit bewahrt, und erst vor wenigen Monaten davor, in einen Zug zu steigen, der dann tatsächlich einen schweren Unfall mit einer Menge Opfer hatte. Und dieses Kribbeln verspürte sie bei dem Piraten nicht, aber bei dem Schatten, der nur wenige Schritte entfernt stehengeblieben war.
Plötzlich begann der Schatten zu verschwimmen, schien von außen nach innen erst unscharf, und dann durchsichtig zu werden. Dann löste er sich einfach in Luft auf. Amber stockte der Atem. Sie schüttelte den Kopf, als könnte das ihr helfen, zu begreifen, was sie gerade gesehen hatte, und starrte auf die Stelle, wo eben noch der Schatten stand. »Was zur Hölle war das?«, keuchte sie, das unnatürliche Fauchen noch immer in den Ohren.
»Hölle trifft es perfekt«, grinste der Kerl, der seinen harten Körper noch immer gegen Ambers presste. »Ich bin Cailean.«
»Cailean?«, fragte Amber sarkastisch.
Der Pirat zog die Augenbrauen hoch und lächelte. Er schien über etwas nachzudenken. Amber hoffte darüber, sie wieder loszulassen. So verführerisch sein Körper auch war, er war ein Fremder und diese Nähe war ihr unangenehm. Außerdem war die Gefahr vorüber, nichts kribbelte mehr in ihrem Kopf. Er konnte sie also getrost wieder gehenlassen.
»Ich schätze, das wirst du in den nächsten Tagen herausfinden dürfen.«
Amber runzelte die Stirn. »Herausfinden?«
Cailean lächelte sie auf eine Art an, die Amber hätte eine Warnung sein sollen, aber alles ging viel zu schnell, als dass sie hätte reagieren können. »Schlaf!«
Cailean lehnte mit dem Rücken gegen die Wand neben dem Fenster. Er hatte gerade die Vorhänge geschlossen, um das Tageslicht auszusperren. Er fühlte sich Müde und abgespannt. Es kam ihm vor, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Was er auch nicht hatte, schließlich hatte er die letzten Tage in der freundlichen Gesellschaft von Airmeds Lakaien verbracht. Warum hatte Airmed ausgerechnet ihn für diesen Auftrag ausgewählt? Sie wusste doch, wie er zu Frauen stand. Da konnte auch nicht das gute Aussehen dieser Frau etwas dran ändern. Die Nähe zu Frauen bereitete ihm Unbehagen. Und dieser Auftrag brachte ihn sehr nahe an eine Frau.
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