Mit diesen Worten verließ Dr. Müller wieder den Raum. Was Geschwandner an seinem Vorgesetzen so schätzte, waren klare Ansagen. Er wusste, was er zu tun hatte.
Es sollte ein schöner Sommertag auf Wangerooge werden. Die Insel war noch nicht komplett ausgebucht. Aber in einigen Tagen würden die Sommerferien in Niedersachsen und Bremen beginnen, zwei Wochen später würde Nordrhein-Westfalen folgen. Es war der erste Arbeitstag von Lars Petersen. Seine Schussverletzungen hatte er in einer Reha-Kur auskuriert und der Amtsarzt äußerte keine Bedenken mehr gegen seinen Dienstantritt. Eine schrittweise Wiedereingliederung in den Polizeidienst hatte er strikt abgelehnt. Diese sei unter den Bedingungen einer kleinen Polizeiwache nicht machbar, erklärte er dem Amtsarzt. Eine Behauptung, die natürlich nicht stimmte, denn der Leiter des Polizeipostens Wangerooge, Onno Siebelts, hatte nach seinem Herzinfarkt auch mit reduzierter Stundenzahl gearbeitet. Irgendwie hatte Petersen es aber geschafft, den Amtsarzt zu überzeugen, ihn mit voller Stundenzahl gesund zu schreiben. Kommissar Petersen, ein strafversetzter ehemaliger Drogenfahnder aus Bremen, hatte sich mittlerweile mit der Nordseeinsel angefreundet. In der kurzen Zeit, in der er auf der Insel war, hatte er schon bei der Aufklärung mehrerer spektakulärer Tötungsdelikte mitgewirkt. Während eines nächtlichen Einsatzes war er im Osten der Insel in eine Falle gelockt und angeschossen worden. Nur durch den beherzten Einsatz einer SEK-Einheit, zu der auch seine ehemalige Auszubildende, Mona Behrens, gehörte, wurde er gerettet. Bei vielen Insulanern war er ein geschätzter „Inselsheriff“ geworden, zumal er sich zusätzlich als Musiker in der Wangerooger Kulturszene betätigte.
Als er die Treppe seiner Dienstwohnung runterging, stieg schon der Geruch frisch gekochten Kaffees in seine Nase. Onno Behrens, der alte Revierleiter und Günter Naumann, der die Wache in den Sommermonaten verstärkte, überraschten ihren Kollegen mit einem frischgedeckten Frühstücktisch im Dienstzimmer.
„Moin mien Jung“, begrüßte ihn Onno schulterklopfend, „schön, dass du wieder bei uns bist.“ Dann stellte er ihm Günter Naumann vor, ein schlanker hochgewachsener Mann mit einem freundlichen Gesicht, der Petersen sofort die Hand schüttelte.
„Ich bin Günter. Wir sollten uns unter Kollegen duzen.“
Onno nickte, „Günter kommt schon seit zehn Jahren immer zur Sommersaison auf die Insel. Er kennt die Abläufe, dem brauchen wir nichts erklären, zur anderen Zeit macht er Dienst in Cuxhaven.“
Alle drei setzten sich und begannen zu frühstücken. Eine rege Unterhaltung über Polizeifragen entspann sich und Petersen spürte gleich einen direkten Draht zu Naumann, der mit seiner Kritik an der Sparpolitik in Sachen Innerer Sicherheit der Regierungen auf Landesebene als auch auf Bundesebene nicht hinter dem Berg hielt.
„Ach so“, unterbrach Siebelts die Unterhaltung der beiden, „morgen kommt dann noch ein Kommissaranwärter aus Oldenburg“, lachend ging sein Blick in Richtung Petersen, „übrigens auf Empfehlung der Kollegin Behrens.“ Petersen war diese Anspielung unangenehm. Mona und er hatten ein besonderes Verhältnis, aber musste Onno das jetzt vor dem neuen Kollegen ansprechen?
„Ist ja gut“, unterbrach Petersen, „wir müssen also wieder ausbilden.“
„Du hast doch damit gute Erfahrungen gemacht“, bohrte Onno weiter.
Petersen versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Was liegt heute an?“
Onno gab nach und nahm den Faden auf.
„Wir machen jetzt erstmal den Bereitschaftsplan für die nächsten Tage und dann habe ich noch eine Überraschung für euch, kommt mal gleich mit.“
„Jetzt machst du uns aber neugierig“, grinste Naumann.
„Kommt mal mit nach hinten, draußen in den Hof.“
Siebelts stand auf, seine Kollegen folgten ihm. Im Hof stand ein großes Paket.
„Jo, is‘ denn schon Weihnachten“, äffte Petersen Franz Beckenbauer nach.
„Eigentlich wollte ja unser Vorgesetzter aus Wilhelmshaven selber kommen, aber wir haben Ostwind und der Fährfahrplan ist mal wieder geändert worden. So muss ich das jetzt feierlich auspacken.“
Mit einem scharfen Teppichmesser begann Siebelts das Paket aufzuschneiden.
„Lars hat die ganze Zeit darüber rumgejammert, dass wir mit einem rostigen Fahrrad auf der Insel rumgurken müssen, während Feuerwehr, Krankentransport und die Seenotretter Fahrzeuge haben.“
Langsam kam ein neues Fahrrad zum Vorschein.
„Ihr seht, das ist kein gewöhnliches Fahrrad, sondern ein E-Bike, genau genommen ein Pedelec mit einer Beschleunigung auf 25 km/h und einer Akkureichweite von 60 km“, erklärte ein sichtlich stolzer Onno Siebelts. Ungläubig bestaunten seine Kollegen das Rad.
„Besser als nichts, ein schöner SUV wäre mir lieber gewesen, aber gut“, lachte Petersen. Danach schlossen sie das Fahrrad an die Außensteckdose des Reviers an und gingen wieder in das Dienstzimmer.
Nachdem sie den Dienstplan besprochen hatten, sprach Onno allgemeine Probleme in der Sommersaison an.
„Lars hat ja noch keine Sommersaison mitgemacht. Folgende Punkte müssen wir im Auge behalten: Da wäre das Problem der nächtlichen Ruhestörungen. Die Leute sitzen bei gutem Wetter vor den Kneipen. Es wird gegrölt und laute Musik gehört. Derjenige, der von uns Nachtbereitschaft hat, ist gekniffen und hat die Arschkarte. Dafür gibt es in der Regel im Sommer nicht so viele Kneipenschlägereien. Lars wird es freuen, er hat im Frühjahr ja was abbekommen. Und nicht zu vergessen, die Kiffer kommen wieder aus ihren Löchern. Die Inselkiffer vereinigen sich mit den Urlaubskiffern. Aber wir haben ja einen erfahrenen Drogenfahnder in unseren Reihen.“
Lars zeigte Onno den Mittelfinger. Diese Anspielungen auf seine frühere Tätigkeit in Bremen konnte er immer noch nicht gut ab. Weil er Kleindealer mit Stoff gefüttert hatte, um an die großen Dealer ranzukommen, war er disziplinarisch belangt worden, auch fühlte er sich als Bauernopfer der Politik in Bremen. Der Frust hierrüber saß noch immer tief in ihm drin.
„Geschenkt Lars, hätte ich nicht sagen sollen“, beschwichtigte Onno, der gemerkt hatte, dass er Petersen mit seiner Bemerkung verletzt hatte.
„Aber Spaß beiseite, der Kleppe vom Zoll will noch mal mit dir reden, der hat irgendwie einen Tipp bekommen.“
Petersen nickte und hoffte, dass Kleppe nicht wieder mit dem Alkoholschmuggel anfangen würde. Seinem Kneipenkumpel zuliebe, dem Wirt des „Störtebekers“, hatte er fünfe grade sein lassen. Wohl hatte er sich dabei nicht gefühlt. Aber der Magister, so nannte sich der Wirt nach einem der Getreuen von Klaus Störtebeker, schob ihm die eine oder andere wertvolle Information über den Tresen. Darauf wollte er nicht verzichten.
Nach der Besprechung startete Petersen zu seinem ersten Streifengang in Uniform nach seiner Reha. Wie immer ging er die Anton-Günther-Straße hinauf zur Promenade und atmete tief durch, als er die ruhige Nordsee erblickte. Immer wieder war er von diesem Anblick fasziniert. Der rote Lotsenkatamaran fuhr langsam an den ankernden Schiffen vorbei und in der Ferne durchpflügte ein großes Containerschiff der Maersk-Reederei die Nordsee Richtung Bremerhaven. Am „Diggers“ wurden die Stühle rausgestellt und der Schwede, Koch des Lokals und zugleich ein Thekenbekannter aus dem „Störtebeker“, schrieb in gestochener Handschrift seine Essensangebote auf die Werbetafel. Der Schwede, der eigentlich Jürgen hieß, hatte seinen Spitznamen bekommen, weil er in Unterhaltungen häufig die Redewendung „alter Schwede“ benutzte.
„Moin Schwede“, rief Petersen ihm zu.
„Moin Sheriff“, kam es zurück, „Werder ist ja nun nur knapp dem Abstieg entronnen, irgendwann seid ihr dran.“
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