Aufregend waren diese Ausflüge nie. Sie waren langweilig. Sonntagsöde. Autofahren, spazieren gehen, Kuchen essen, zuschauen, wenn Tante Ilse mit Oma tanzte und Onkel Hans seine Mutter aufforderte, spazieren gehen, Autofahren. Im Radio liefen auf der Rückfahrt am frühen Abend immer Wunschsendungen mit beliebten Melodien für die lieben Großeltern, Tanten, Onkel und Verwandten mit herzallerliebsten Grüßen von Sohn, Tochter und den süßen Enkelkindern. Müller überfiel dann eine sanfte Melancholie, er döste sich weg, sah die Welt dort draußen wie in wattedicken Novembernebel verpackt und fühlte sich irgendwie allein.
Abwechslung versprach nur die Hoffnung darauf, dass der nächste Sonntagsausflug mit seinem Vater stattfinden könnte. Doch der hatte zumeist kurzfristig etwas „zu erledigen“ und konnte nicht dabei sein. So erklärte sich Opa bereit, zu fahren und ächzte seinen schwer lenkbaren K70 aus der Garage. Ein Prachtstück in pastellorange, tiptop gewienert und mit ultrageringem Kilometerstand, weil Opa seine schönen Sachen lieber schonen wollte. Auf dem Beifahrersitz saß nun Müllers Oma mit Hut, hinten quetschte sich seine Mutter neben Tante Ilse, die wie üblich ihr Kölnisch Wasser namens „Chapeau“ umgab.
„Komischer Geruch“ dachte Müller noch zu Beginn der Fahrt, als sich Tante Ilses Duft mit Omas „Anna Bolleur“-Parfum vereinte. Über allem lag zudem der schwere Qualm von Opas Fehlfarben. Das Stück zu 30 Pfennig, mit grüner Banderole.
Seine Zigarre nahm er selten aus dem Mund, schon gar nicht beim Autofahren. Da brauchte er die Hände für das gediegene Nachfassen beim Lenken, welches wiederrum der Tatsache geschuldet war, dass Opa, sommers wie winters, einen klobigen Mantel und seinen Hut trug. Auf Müller wirkte er dann wie eine Figur von Meister Geppetto. Ruckartige unnatürliche Bewegungen mit den Armen, der Rest des Körpers steif. „Mutti, guck du mal“ sagte er dann, wenn er die Spur wechseln, ausparken oder abbiegen wollte.
Müller mochte seinen Opa sehr gern. Aber diese olfaktorische Herausforderung bei stur verschlossenen Fenstern war zu viel für seinen Magen. Ihm wurde kotzübel und nach spätestens drei Kurven musste er würgen. Seine Mutter erkannte als erste.
„Mutti“, sagte sie zu ihrer Mutter, „dem Jungen ist schlecht.“
Vatti“, sagte seine Oma zu seinem Opa, „dem Jungen ist schlecht.“
„Kann gar nicht sein“ nuschelte Opa am Stumpen vorbei.
„Fahr bitte vorsichtiger“, sagte Oma zu Opa.
„Kann ich nicht“, sagte Opa zu Oma.
Was im Übrigen stimmte, Müllers Opa fuhr nie unvorsichtig. Das konnte man allein an der Schlange hupender Autos hinterm K70 sehen.
Das Würgen wurde schlimmer.
„Oh Gott, ich hab nichts dabei“ sagte seine Mutter, „Mutti, hast du…?“
Müllers Oma kramte in ihrer Handtasche und bot zunächst ein Erfrischungstuch an. Müller schüttelte verzweifelt den Kopf. Wollte er nicht.
„Oh warte, nimm die hier...“ Oma nahm die beschmierten Brote aus einer Tüte und gab sie nach hinten. Müller sehnte sich nach einem offenen Fenster, aber auf die Idee kam irgendwie niemand. Bevor seine Mutter ihm die Tüte vor das Gesicht halten konnte, erreichte ihn noch ein Schwall Zigarrenqualm und gab ihm den Rest. Der Junge erbrach sich reinen Herzens in die Plastiktüte, in der sich üblicherweise das Schnittbrot vom Kaufmann befand; stets frisch gehalten durch kleine Luftlöcher am Boden.
Müller stierte auf das stumme Elektra Benlos-Radio, aus dem, sobald sein Vater den Zündschlüssel gedreht hatte, Dean Martin „everybody loves somebody sometime“ croonen würde. Das war Vaters Lieblingslied und direkt auf Seite 1 der sanft leiernden Cassette, die ohne schützende Hülle im Mittelfach herumlag, wenn er die zweite Cassette, die er sein eigen nannte in den Schlitz des Autoradios rammte. Best of Frank Sinatra. „Strangers in the night“. Doo-bee-doo-bee-do. „Seltsam“, dachte Müller, als er den Vierfarbkugelschreiber seines Vaters neben der Cassette entdeckte, „den hat er doch sonst immer bei sich.“
Obwohl er grundsätzlich gerne mit seinem Vater unterwegs war, blieb das ständige Warten der ungeliebte Teil der gemeinsamen Unternehmungen. Viel schöner war es, mit dem großen Taunus durch die Stadt zu juckeln, dieses und jenes einzukaufen, einen Freund zu besuchen, Bekannte zu treffen. Dabei ging es selten um Dinge, die den kleinen Müller betrafen; und ehrlich gesagt wusste er eigentlich nie, was wirklich geschah. Er war eben einfach dabei, wartete, saß an Nebentischen oder in anderen Zimmern, spielte mit Bierdeckeln oder döste vor sich hin. Auf diese Weise entdeckte Müller das Dösen und entwickelte es für sich zur wirkungsvollen Kunstform.
Wenn Müller döste, dann war das nicht so, dass er dabei an gar nichts dachte. Im Gegenteil. Beim Dösen schossen ihm nicht selten mehr Gedanken durch den Kopf als im wachen Zustand.
In der Fernsehzeitschrift seiner Mutter hatte er sogar einen kleinen Artikel auf der Gesundheitsseite gefunden, in dem ein Wissenschaftler aus Amerika empfahl, Kinder ab und an dösen zu lassen, sie nicht abrupt zu stören. Denn beim Dösen verarbeiten Menschen Gelerntes, sie speichern es ab und vertiefen somit ihr Wissen. Das war der Beweis! Müller war spontan begeistert von diesem Artikel und beschloss, auszuprobieren. Hier und da ein bisschen im Unterricht mitmachen und dann erstmal dösen. Abspeichern. Vertiefen. Er wurde ein Meister darin. Erklärte seine Mutter ihm, was er vom Kaufmann am Eck mitbringen solle, nickte Müller und döste vor sich hin. „Willst du nicht langsam mal los?“, erinnerte sie ihn an den Einkauf. „Kleinen Moment, ich vertiefe noch.“
Beim Sportunterricht erklärte sein Lehrer eine Übung und gab mit der Pfeife das Kommando. Müller blieb stehen und speicherte das Gehörte in Ruhe ab. Er wurde prompt aufgefordert, konterte jedoch mit dem Argument, sein neues Wissen gerade vertieft zu haben, woraufhin sein Lehrer recht garstige Worte fand und ihn zum Duschen schickte. Da hatte er dann ausreichend Zeit zum Dösen.
Am schönsten war das Dösen jedoch unterwegs im Auto, wenn Fahrzeuge, Häuser, Wälder, Wolken oder Wiesen an ihm vorbeizogen, er dabei den Gesprächen im Auto lauschte und Wortfetzen in seine Tagträume einfließen ließ.
Darin tummelten sich heldenhafte Abenteuer, wagemutige Einsätze, ritterliche Rettungstaten, tollkühne Flugeinlagen, sportliche Höchstleistungen, entschlossene Handlungen, treffsichere Duelle, rasante Autorennen, eiskalte Polarexpeditionen, schwebende Tauchgänge, legendäre Wettläufe, epische Sandkastenschlachten, verwegene Reiteinlagen, geschichtsträchtige Mondspaziergänge, sonore Gesangseinlagen, umjubelte Konzerte, waghalsige Wendemanöver, atemlose Verfolgungsjagden, meisterhafte Quartettstiche, wunderbare Kochkenntnisse, federleichte Verführungskünste, zärtliche Gesten, zaghafte Zärtlichkeiten, stürmische Eroberungen, brillante Schauspielkünste, einschmeichelnde Wesensmerkmale, markante Gesichtszüge, galante Formulierungen, perfekte Manieren, wache Gedanken, blitzende Blicke, stählerne Muskeln, vernarbte Kampfspuren, superstarke Kräfte, kämpferische Aufforderungen, mitreißende Ideen, markige Worte, messerscharfe Analysen, schnelle Reflexe, märchenhafte Reichtümer, grenzenloser Mut, fabelhafte Rekorde, intelligente Fragen, kluge Antworten, feurige Tänze, stichhaltige Argumente, listige Manöver, besonnene Einschätzungen, tapfere Niederlagen, überlegene Siege, unfassbare Matheleistungen.
Diese bunte und spannende Welt, die nur ihm gehörte und in der er in rasender Abfolge zumeist alles auf einmal erlebte, brachte ihn vor lauter Aufregung zum Schwitzen. Nicht nur im Taunus bei über 40 Grad Innentemperatur.
Das letzte Mal, dass der kleine Müller ähnlich lange auf den großen Müller warten musste, war gerade erst eine Woche her. Sein Vater wollte Robert besuchen, einen Freund, der in einem soliden Gartenhaus am Kanal im großen Stadtpark wohnte.
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