Gut, dieses Jahr müssen wir nicht nach Yutz bei Thionville (ehemals zu Kaisers Zeiten noch Diedenhofen) in den bricolage (Baumarkt) fahren, um die drei oder vier Winteropfer an Teichgold- durch winzige Jungfische zu ersetzen, die man dort erstehen und in mit Wasser gefüllten, durchsichtigen Plastiktütchen zurück ins Saarland verbringen kann. Das ginge auch gar nicht, da wegen Corona die Grenzen am Dreiländereck dicht sind, ausgerechnet bei Schengen, dem Ort, der nach dem gleichnamigen Abkommen benannt ist, bloß weil es dort auf einer kleinen betonierten, schiffförmigen Insel mitten im Moselstrom beschlossen, verkündet und besiegelt worden ist, vor Jahr und Tag.
Was die EU wert ist, erweist sich jetzt angesichts der Krise. Es ist schlimmer als früher, als hier noch risikoreich zwischen Luxemburg, dem Saarland und Frankreich hin und her geschmuggelt werden musste und sich an den Grenzschranken Wochenende für Wochenende lange Schlangen bildeten. Heute läuft gar nichts mehr. Kein kleiner Grenzverkehr. La France Nord-est, wie der Zusammenschluss von Elsass, Lothringen und Champagne neuerdings heißt, ist Corona-Hochrisikogebiet mit strenger Ausgangssperre. (Wie es den französischen Cousinen und ihren ebenso betagten Gatten wohl geht? Letztes Jahresende hat man sich noch Grußkarten zukommen lassen.) Und auch Luxemburg hat die Grenzen dichtgemacht. Also kein Ausflug nach Schengen, um dort billig zu tanken, italienischen Espresso zum halben Preis im Vergleich zu Deutschland zu erstehen oder billige Zigaretten gleich stangenweise zum Herüberschmuggeln ins Saarland. Aber wer raucht auch jetzt noch, wo das Rauchen als eine Ursache für COPD (chronisch obstruktive Lungenkrankheit) gilt und damit auch für einen schlimmen (möglicherweise letalen – tödlichen) Verlauf der COVID-19-Lungenentzündung verantwortlich gemacht wird?
Auch der Ausflug nach dem auf der anderen Moselseite liegenden kleinen Ort Sierck-les-Bains mit der wunderschönen mittelalterlichen Burganlage hoch überm Fluss und dem französischen Mousquetaires- Supermarkt entfällt, wo man sich sonst immer die neueste Ausgabe von Charlie Hebdo besorgen oder neben verschiedenen Käsesorten von Chèvre bis Camembert vor allem die kleinen Apéro-Käsewürfelchen von La vache qui rit kaufen kann. Die dienen dann als Nachschub für die kleine Freude am frühen Morgen dreimal die Woche vor der Dialysesitzung, beim kurzen Treffen der ersten Patienten in der Vorhalle vor dem Eingang des Dialysezen-trums, wo man vor dem Öffnen der Tür noch ein kleines Schwätzchen hält und sich gegenseitig erfreut mit an sich verbotenen Kleinigkeiten, die man sonst als Dialysepatient nicht essen darf, zum Beispiel Bananen, Süßigkeiten oder eben Schmelzkäse. Jetzt, kurz vor der Dialyse, kann man sich diesen kleinen Genuss gegenseitig gönnen und sich ebenso gegenseitig ein wenig sein jeweiliges Leid klagen.
Als Morituri unter sich, versteht sich.
(14. April 2020)
Ave Covid, morituri te salutant (7)
Was einem so alles durch den Kopf geht, wenn man sich wie in einem Belagerungszustand fühlt. Nicht nur vor langer Zeit einmal übersetzte Bücher fallen einem ein, wie Victor Serges Eroberte Stadt , ein Roman, in dem er die Situation von Sankt Petersburg schildert, nach dem „Sieg“ der Bolschewiki in der Oktoberrevolution. Wobei man, anders als es der Titel des Buches besagt, vielmehr von einer belagerten Stadt sprechen müsste, da unweit im Norden britische Truppen sich auf einen Angriff vorbereiten und überall im Land die diversen politischen Gruppen miteinander im Bürgerkrieg sind.
Auch wenn dieses Bild vom Belagerungszustand im „Krieg“ gegen das Corona-Virus hinten und vorne nicht stimmt, taucht plötzlich unverhofft aus dem Unbewussten eine Erinnerung auf, wie ich als Zwei- oder Dreijähriger erstmals im Leben eine ähnliche Situation erlebt habe, eine tatsächlich totale Ausgangssperre. Meine ältere Schwester war noch dabei, es muss also vor der Kinderlähmungsepidemie gewesen sein, denn da war ich vier und sie acht Jahre alt. Wir standen, Eltern, Opa, die ein paar Jahre ältere Schwester und ich, im ersten Stock am mit einem Tuch verhängten Fenster und linsten auf die Straße. Damit das von draußen nicht bemerkt wurde, musste vorher im Zimmer das Licht gelöscht werden, denn es war völlige Verdunkelung angeordnet. Draußen auf der Straße staute sich ein kilometerlanger Konvoi, von Militärfahrzeugen, Truppentransporter-Lkw, Kettenfahrzeugen, kleinen Panzern, Jeeps: französische Truppen bei einer Übung, ein Großmanöver im besetzten Saarland, der richtige Krieg war erst etwa fünf Jahre vorbei.
Meine Eltern waren nervös, das spürte ich, auch wenn ich noch nicht wusste, was echte Angst bedeutet. In meiner Fantasie sehe ich sie zittern, obwohl … als Bilder hab ich nur die Militärfahrzeuge im Kopf, die deshalb so lange auf der Durchgangsstraße vor dem Haus anhalten mussten, weil sie einen Panzer mit hohem Turm dabei hatten, der unter der Stromleitung, die über die Straße gespannt war, nicht so einfach hindurchpasste.
Ein paar Jahre lang lag neben der Straße und neben dem Bahngleis zwischen Völklingen und Saarbrücken in der dort vielleicht hüfthohen Saar ein Panzer auf der Seite, der bei diesem oder einem anderen Manöver vom glatten Kopfsteinpflaster abgerutscht und in den Fluss gestürzt war. Dieser havarierte Besatzerpanzer im Wasser rang den im Zug vorbeifahrenden Saarländern noch nach Monaten, solang er da lag, ein hämisches Lächeln ab – die Franzosen waren zu jener Zeit im Saarland keineswegs beliebt.
Aber wir sind heute in keiner Bürgerkriegssituation, und auch in keinem echten Belagerungszustand. Wir haben es lediglich mit einer Epidemie zu tun, und nur die unentwegt in allen Medien, ob Fernsehen, Radio, Zeitungen oder Internet, heruntergebeteten Ansteckungszahlen und Todesstatistiken und Vorsichtsmaßregeln und Selbstisolierungsempfehlungen und Maskenpflichten und Testreihen und was derlei durch den Äther schwebende Informationsfluten mehr sind, sie alle machen uns zunehmend Angst und verwirren sich in ihrer Vielfalt zu einem undurchschaubaren Zahlen- und Datengespinst, das alles Erdenkliche dazu beiträgt, uns infolge seiner Undurchschaubarkeit noch weiter in Panik zu versetzen.
Durchschaubarkeit wäre eine Möglichkeit, die tatsächlichen Probleme und Gefahren realistisch einzuschätzen, sich ein nüchternes Bild von der aktuellen Situation zu machen. Nüchtern, also eher unsentimental, lassen sich gesellschaftliche und historische Gegebenheiten unter rein statistischem Blickwinkel betrachten; Zahlen, die nur dann zu einem zynischen Ergebnis führen, wenn man sie als quasi natürlich, gewissermaßen gottgegeben, als unvermeidlich und unserem rationalen Eingreifen deshalb grundsätzlich entzogen ansieht. Wir sollten deswegen auf keinen Fall aus den Augen verlieren, dass sich mit solchen Milchmädchenrechnungen keine gesicherten Zukunftsvoraussagen treffen lassen, wie sie Bevölkerungsstatistiken zumindest dann nahelegen, wenn sie sich mit Hochrechnungen dynamischer Entwicklungen befassen und sich nicht, wie es ihnen ansteht, auf die Interpretation vergangener und insofern gesicherter Daten beschränken.
Die Milchmädchenrechnung, die sich bevölkerungsstatistisch aus einer Interpretation der uns in den letzten Wochen zugänglich gemachten Infektions- und Sterbedaten infolge der Corona-Epidemie für die nahe Zukunft ergibt, ist insofern ausgesprochen skeptisch zu bewerten. Es muss nicht so oder ganz anders kommen, es kommt vor allem darauf an, welche Rahmenbedingungen wir annehmen beziehungsweise, wie wir diese in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten potenziell verändern.
Die erste Annahme in allen gegenwärtigen Prognosen über den Verlauf der Epidemie heißt, dass zurzeit, und in nächster Zeit auch nicht, wirksame Medikamente zur Behandlung von Patienten, die an der durch COVID-19 verursachten Lungenentzündung leiden, zur Verfügung stehen (werden). Auch der die Seuche endgültig zum Stillstand bringende Impfstoff wird noch mindestens anderthalb Jahre auf sich warten lassen, vielleicht sogar noch länger.
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