Wie viele Grundrechte dank Corona kurz- oder mittelfristig mal eben so außer Kraft gesetzt werden, ist schon beeindruckend. Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Freiheit der Berufsausübung, all diese Dinge, die wir gewöhnlich für selbstverständlich halten, sind – vorübergehend? – eingeschränkt. Wenn nicht gar völlig eliminiert. Angeblich zugunsten des Rechts auf Leben. Das, so heißt es, werde wohl ein jeder einsehen. Common Sense, oder – wie die irreführende deutsche Version lautet – der gesunde Menschenverstand. Als ob es einen ungesunden Menschenverstand gäbe. Den sollten wir dann lieber – ehrlicherweise – Schwarmdummheit nennen.
Irgendwer hat in den letzten Wochen erklärt, wir würden uns noch wundern, welche Kompetenzen den Regierenden für den Fall eines Ausnahmezustands vom Gesetz her eingeräumt würden – da seien die alten Notstandsgesetze, gegen die es 1968 reichlich Opposition gegeben habe, ein Kinkerlitzchen gewesen. Zu verdanken hätten wir diese extrem weit gehenden Möglichkeiten zur Einschränkung des Grundgesetzes ausgerechnet unserm ach so korrekten, linken Ex-„RAF-Anwalt“ Otto Schily, der als sozialdemokratischer Innenminister in der rot-grünen Regierungszeit gezeigt habe, wozu ein echter Preuße in der Lage ist. Er habe still und heimlich in rasantem Tempo, ohne dass die Öffentlichkeit größer davon Notiz genommen hätte, im Schnellverfahren die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen zur Quasiabschaffung des Grundgesetzes in Notstandszeiten via Parlament und Bundesrat durchgeboxt. Und was das alles beinhalte, das könnten wir jetzt angesichts des Corona-Ausnahmezustands gleichsam hautnah erleben.
Nehmen wir zum Beispiel die Versammlungsfreiheit. Wenn bei dem jetzigen wunderschön sonnigen Frühjahrswetter in der Osterzeit mehr als zwei Personen zusammen an der frischen Luft im Park wandeln oder sonst wo in der „Öffentlichkeit“ (falls man davon überhaupt noch sprechen kann, wo doch kaum noch etwas offen ist – da kann Hölderlin noch so freundlich mahnen „Komm! ins Offene“), dann ist das bereits ein Fall für die Polizei. Und ein Strafgeld ist fällig.
In meiner Erinnerung habe ich so etwas nur einmal erlebt, im Sommer 1968 in Paris, im Quartier Latin. Unten am Ende des Boul’Mich, des Boulevard Saint-Michel, am Rand der Seine, wo an der Kaimauer sonst die Bouquinisten auf die Touristen oder diverse Liebhaber antiquarischer Bücher und Zeitschriften warten, standen die vielen jungen sonntäglichen Flaneure auffälligerweise immer nur zu zweit auf dem Platz vor dem Brunnen des heiligen Michael herum. Einem Brunnen, in dem laut einer Mutmaßung der Satirezeitschrift, die damals noch ( L’Hebdo) Hara-Kiri hieß (bis sie wegen der Schlagzeile „Bal tragique à Colombey – 1 mort“ zu de Gaulles Tod verboten wurde und prompt eine Woche später als Charlie Hebdo wieder erschien), wohl der Goldschatz der französischen Republik versteckt sein müsse. Denn er war derart militärisch gesichert, dass tatsächlich mehrere hochbewaffnete Hundertschaften der Bürgerkriegstruppe CRS (Compagnies Républicains de Sécurité) aufmarschiert waren.
Ähnlich bewacht werden muss offensichtlich dieser Tage der Osterspaziergang – vom Eise befreit und schon von Corona bedroht. Allerdings betrifft es diesmal kein abgegrenztes Terrain, wie 1968 das Quartier Latin in Paris, sondern das ganze Land. Beziehungsweise den ganzen Kontinent und mehr. Auslöser ist überdies heutzutage keineswegs ein Aufstand der Bevölkerung oder ein von den Werktätigen organisierter Generalstreik, der das gesamte Land so gut wie komplett lahmlegt, sondern schlicht Angst. Die kein guter Ratgeber sein soll. „Ick bin de arme Kunrad“, hieß es in den Zeiten, die zum Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts führen sollten, „un wiss mir kun Rat.“ Angst, Furcht, Ratlosigkeit. Furchtbare Zeiten.
(5. April 2020)
Ave Covid,morituri te salutant (5)
Take it diseasy
(but take it!)
Was wir für neue Vokabeln lernen. Nosokomial zum Beispiel. Eine Nosokomie ist laut dem Pschyrembel eine im Krankenhaus erworbene Infektion. Experten (wunderliche Wesen, äh, Weise) weisen darauf hin, dass diese Nosokomie – ähnlich wie die fatalen multiresistenten Krankenhauskeime, an denen jährlich Tausende von Krankenhauspatienten sterben – während der Corona-Pandemie zunehmend an Bedeutung gewinnen wird, eine Bildung von „Clustern“ wie auch in Altenheimen bewirken könnte. Cluster, noch so ein neues Modewort, das bislang überwiegend positiv konnotiert benutzt wurde – eine erfreulich enge Zusammenarbeit im wissenschaftlichen oder industriellen Bereich meinend. Nun also Cluster auch im Zusammenhang mit Seuchenherden.
Unsere Dialysezentren sind um die Vorsorge vor ansteckenden Keimen und anderen Krankheitserregern ebenso besorgte wie erfahrene Einrichtungen. Hat man es hier doch täglich mit Patienten zu tun, denen mit Nadeln in den Arm gepikt wird, um kontinuierlich einen halben Liter Blut zwecks Reinigung aus ihrem Körper heraus in die Dialysemaschine zu pumpen und anschließend wieder zurück. Dass deshalb hier besonders auf Hygiene geachtet werden muss, ist überlebensnotwendig für die Patienten. Aber auch die Pfleger und Ärzte müssen darauf achten, sich nicht anzustecken, denn eine Weiteransteckung ihrer Patienten könnte sich für diese letal auswirken – letal, oder Letalität, eine freundliche medizinische Bezeichnung für einen höchst tödlichen Ausgang.
Insofern bilden die Dialysezentren ähnlich wie Intensivstationen in den Krankenhäusern ein anschauliches Beispiel dafür, was der angesichts der COVID-19-Bedrohung besonders gefährdete Teil der Bevölkerung zu erwarten hat: Dann, wenn die angekündigte „Lockerung“ oder gar „Befreiung“ der Restbevölkerung von der allgemeinen Quarantäneanordnung endlich stattfindet, der „Lockdown“ – der die Wirtschaft insgesamt lähmende und die meisten Klein- und Mittelbetriebe wie die kulturellen Einzelkämpfer (Scheinselbstständigen) der Insolvenz entgegentreibende Stillstand – wie dringlich erwartet endlich ein Ende findet. (Ende ungut, alles ungut.)
Die Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte unseres Dialysezentrums tragen schon seit zwei Wochen Schutzmasken, unseren Taxifahrern wurde verordnet, immer nur noch einen Patienten pro Fahrt zu transportieren und diesen lonely Fahrgast hinten sitzen zu lassen. Vermutlich, um einer der Nosokomie ähnlichen Transporto- alias Taxikomie vorzubeugen. Bei uns Patienten haben diese Maßnahmen dazu beigetragen, unsere krankheitsbedingt ohnehin ausgeprägte Nosophobie (krankhafte Angst, krank zu werden) in ungeahnte Höhen zu katapultieren. Bevor diese explosionsartige Erhöhung des Panikniveaus zu einer ausweglosen Selbstisolation führen kann (wie beim Altersmilliardär Howard Hughes, der sich in einem allen Fremden unzugänglichen Stockwerk eines seiner Hotelhochhäuser in Las Vegas einsam die Fingernägel auswachsen ließ wie ein chinesischer Mandarin und im eigenen Heimkino permanent die von ihm produzierten Spielfilme anschaute, dank Demenz immer wieder völlig neue, spannende Reißer, meist mit John Wayne oder ähnlichen Hollywood-Heroen, meist auch mit Happy End), hat die Dialysezentrumsbetreiberzentrale gestern nun an uns Patienten jeweils eine hochwertige, waschbare Mund- und Nasenschutzmaske verteilen lassen. Mit der Maßgabe, ab jetzt gelte für die Dialysezeit wie für den Hin- und Rücktransport Maskenpflicht. Überdies seien die Masken zweimal wöchentlich bei 60 Grad zu waschen; wie man das mit nur einer Maske bewerkstelligen soll, blieb unerwähnt.
Immerhin Gratismasken. Schutzmasken waren in den letzten Wochen echte Mangelware, ähnlich wie Desinfektionsspray oder wie, völlig überraschend, auch Klopapier. Welche Kollateralschäden die Corona-Krise noch alles im Gepäck hat, werden die nächsten Wochen zeigen. Unerwartete Details werden fehlen, vielleicht wird es Engpässe bei so was wie den kleinen Schläuchen für den Sauerstoffzufluss der Intensivpatienten geben, oder bei den Druckerpatronen für das Homeoffice, oder man glaubt es kaum, ausgerechnet bei den Staubsaugerbeuteln.
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