Helmut Lauschke
Talfahrt
Schlichtungsversuche zu den Geschehnissen der Vergangenheit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut Lauschke Talfahrt Schlichtungsversuche zu den Geschehnissen der Vergangenheit Dieses ebook wurde erstellt bei
Aus dem syrischen Flüchtlingslager im Libanon
Der Französisch-Unterricht und andere Erfahrungen am Augusta-Gymnasium für Mädchen
Wie du's findest
Mit Simon in einer kleinen Wohnung am Rande der Stadt und die Geschichte der Schülerin Ünett
Wohin?
Abendgespräch im Verein zur Rettung Schiffbrüchiger und von Straßenkindern
Keiner verlässt sich auf den Sonnenschein
Schatten, die das Sein begleiten
In der Erinnerung
Das Coronavirus
Die Angst
Von der Sprache des Bösen
Vor dem Ende und der Bildungsmangel
Schädlich ist die Kernstrahlung
Zwischenfall mit Kopfplatzwunde
Der Spruch
Es nimmt kein Ende
Neumond
Merkmal
Vor der Einstellungskommission für Lehrer an der Ernst Thälmann-Grundschule
Was war, was ist
Unerwarteter Besuch und die Erschütterung
Ein letztes Wort
Raphael kehrt von der Wanderung zurück
Impressum neobooks
Aus dem syrischen Flüchtlingslager im Libanon
Schlichtungsversuche zu den Geschehnissen der Vergangenheit
“Wie sieht es in den Familien aus, wenn Kinder in dieser Grausamkeit entehrt, verwahrlost und misshandelt werden? Das geht nicht gut und wird nicht ungestraft bleiben.” Dazu bemerkte der junge Krankenpfleger Adil, dass die Grausamkeiten am Menschen und besonders an Kindern ein Grund sind, dass sich ein Volk von innen heraus zerstört, weil es die Religion der Väter und Vorfahren verworfen und ihre Denkmäler gegen alle Achtung und Einsicht zerschlagen hat und weiter zerschlägt. Karl Ferdinand denkt an die grausamen Verbrechen, von denen sein Vater, der Psychiatrie-Professor Björn Baródin, aus der Zeit des 2. Weltkrieges berichtete, als sich Völker gegenseitig abschlachteten, Städte mit ihren Einwohnern niederbrannten und wehrlose Männer, Frauen und Kinder mit Brand- und Phosphorbomben verstümmelten oder in den Konzentrationslagern auf die grausamste Weise gequält und getötet wurden. Das Abendland hat eine Niederlage erlitten, von deren Schwere es sich nicht erholt, weil es die Maßstäbe der Würde des Menschen, die Achtung vor den Völkern und ihren Kulturen und Religionen zerschlagen, zerschossen und niedergebrannt hat.
In diesem Sinne sind die Ereignisse in Syrien eine Fortsetzung der Vernichtung der Menschheit, als nun der Mensch auch die Selbstachtung vor dem eigenen Leben verloren hat und es mit Dynamit in die Luft sprengt. Dabei werden die Massenmörder als getarnte Selbstmörder immer häufiger aus Kindern und dort vorwiegend aus Mädchen rekrutiert, die in ihrer kindlichen Naivität von den hohen Werten des Menschen, seinen Kulturen und der menschlichen Gemeinschaft wenig oder nichts wissen. Moralisch betrachtet ist es ein Höllenbrand, der als Flächenbrand die arabischen Völker ergriffen hat und im weiteren Verlauf die Kontinente nicht verschont. Die Vernichtungsschläge und Zersetzungsrisse haben die Menschheit schwer verletzt, was weit über die existenzielle Zerreißproblematik zwischen arm und reich hinausgeht und in seiner ungehemmten Zerstörungswut tief in den Kern seiner Seinsaxiome dringt.
“Was sind das für Menschen, die ein Mädchen schwängern und es im 5. Monat der Schwangerschaft zusammenschlagen, anstatt es zu schützen und ihr zu helfen”, klagt Adil mit Mitleid und Zorn. Seine Augen blicken traurig. Dass es keine Tränen gibt, hat den Grund in der Häufigkeit schwerer und schwerster Verletzungen von wehrlosen Frauen und Kindern.
Karl Ferdinand streicht sein Mitleid dem Mädchen über den Kopf, nachdem es in das Bett zur weiteren Nachbehandlung gelegt worden ist. Zur Situation sagt er: “Es erschüttert zutiefst anzusehen, wie die Moral vor der Würde des Menschen geschändet und mit Füßen getreten wird. Von den Schändungen hatte ich keine Vorstellung, bis ich im Lager mit der Arbeit des Arztes begonnen habe. Was Menschen anderen Menschen in rücksichtsloser Brutalität antun, das überschreitet jegliches Vorstellungsvermögen innerhalb der Zivilisation einer geachteten Kultur. Es ist eine Schande und Sünde an der Gesamtheit der Menschheit, was unfassbar und in ihrer Schwere unentschuldbar ist. Was soll aus den Menschen werden, die keine Achtung vor dem Leben mehr haben?
Männer bringen das Mädchen von 16 Jahren, das mit einer Schwangerschaft im 5. Monat brutal geschlagen worden ist. Ihr wurden die Handgelenke gebrochen und Risswunden ins Gesicht geschlagen. Auf dem Operationstisch versorgt Karl Ferdinand die Wunden im Gesicht und richtet in Kurznarkose die Frakturen der Unterarme und stellt sie mit Gipsverbänden ruhig. Das Mädchen wird im Lazarett aufgenommen, um weitere Komplikationen zu vermeiden und die posttraumatischen Schmerzen zu bekämpfen.
“Sehen Sie nicht, wie die Gesichter der Flüchtlinge und besonders der Kinder immer trauriger blicken und schmäler werden. Die Menschen brauchen mehr Nahrung und sauberes Trinkwasser, damit die Darminfektionen nicht noch weiter zunehmen.” “Die Verschlechterung der Gesundheit der Menschen im Lager beobachte ich mit großer Sorge. Aber die Medikamente in der Apotheke reichen nicht aus, um die vielen Infektionen zu bekämpfen und unter Kontrolle zu bringen. Ich denke an die Zunahme der Tuberkulose und an die Malaria. Mir als Arzt und dir als Paramedic sind Kopf und Hände gebunden. Es ist ein Trauerspiel, was hier abläuft, ohne dass eine Besserung zu erkennen ist”, sagt Karl Ferdinand mit ernstem Gesicht und den Zeichen der Erschöpfung. “Und die Menschen sterben, ohne dass die Zahl der Flüchtlinge weniger wird”, sagt Adil.
Karl Ferdinand: “Die Menschen verlieren die Hoffnung, jemals in die Heimat zurückkehren zu können”, “die ohnehin zu einem Trümmerland zerbombt worden ist, wo Generationen beschäftigt sein werden, die Städte und Dörfer neu aufzubauen”, unterbrach Adil. Karl Ferdinand weiter: “Und was noch mehr erschüttert, sind die trostlosen Gesichter der Älteren, als befürchten sie, dass es überhaupt fraglich sei, ob sie lebend aus dem Lager herauskommen.” Adil: “Syrien und seine Geschichte geben das Beispiel eines unvorstellbaren Genozids und der größten Trauer, wo ein Volk dabei ist, sich auszurotten und das Land und seine Kultur zur Unkenntlichkeit zerstört.”
In all den Dingen mit dem Durcheinander steckt das Leben, dass sich der Mensch in seinen Gedanken nach den Sternen streckt. Auf dem Weg ins Universum gibt es Gedankenblitze als Markierungslichter für den sich ausstreckenden Verstand, die zeitlos blinken und nicht zu löschen sind. Die Suche nach dem Licht bringt Zweifel und Verzweiflung, weil die ‘Wolkendecke’ über dem Verstand nicht zerreißt, um den Durchblick zu bekommen. Denn zur Erkenntnis braucht es das Licht der Erleuchtung, um im Zwischendrin des Lebens die Kreuzungen der evolutiven Entscheidungen zu verstehen. Es ist die ‘Wolkendecke’, dass es dunkel ist und die Erhellung für den Verstand ausbleibt, als stecke die Dunkelheit als Scheibe vor dem Offenbarungsblitz der Erkenntnis, die das suchende Auge blendet und erblindet.
Weil es so ist, was Ursache der Unsicherheit des Denkens ist, wird das Zwischendrin mit dem Durcheinander und dem Aufstieg und Absturz umso deutlicher, je umfassender die Anstrengung mit der Suche nach der Erkenntnis ist. Das Auf und Ab wird physisch und psychisch spürbar, wenn der Abgrund an die Pforten des Daseins grenzt, sie umgibt und bedroht. Es ist die Angst des Menschen, dass er in den Abgrund stürzt, weil die Türen zum Abgrund weit offen stehen. Um dem gefürchteten Absturz zuvorzukommen, muss der suchende Mensch über den analysierenden Verstand hoch hinaus fliegen, um auf jener Schwelle zu landen, wo er glaubt, die Sicherheit zu finden, um die Füße aufzusetzen, die Tragegurte zu lösen und den Fallschirm, der ihn bis zu dieser Höhenschwelle getragen hat, mit dem Gefühl der gehobenen Erkenntnis einzurollen.
Читать дальше