Adele Bardenbrecht folgt der Direktorin zum Direktorzimmer, wo Frau Weißwasser ihr das Französisch-Buch überreicht und auf die Lektion in etwa der Mitte des Textbuches verweist, wo der Unterricht abgebrochen ist und fortgesetzt werden soll. “Ziehen Sie sich das Buch zu Gemüte. Sie haben noch eine halbe Woche Zeit, sich mit dem Stoff vertraut zu machen”, sagt Frau Weißwasser. Adele fragt, ob der Unterricht bisher in der französischen Sprache gehalten wurde. Die Direktorin ist sich da nicht sicher. Sie schlägt aber vor, es in Zukunft zu tun. Adele ist derselben Meinung, was der Festigung der Fremdsprache außerordentlich dienlich ist. So verabschieden sich beide im guten Einvernehmen. Die Direktorin begleitet Frau Bardenbrecht im forschen Gang zur Tür zum Sekretariat und wünscht ihr für die neue Arbeit viel Erfolg.
In den folgenden Tagen macht sich Adele mit dem Französisch-Buch vertraut. Die Texte und grammatischen Übungen findet sie leicht. Die Texte sind zum Teil den Zeitungsartikeln entnommen, die sich mit der Geschichte und den politischen und kulturellen Ereignissen in Frankreich befassen. Adele stellt sich vor, dass der Unterricht lebendiger und für die Allgemeinbildung informativer wird, wenn das Lesen auf die Artikel in den französischen Zeitungen wie ‘Le Monde’ gerichtet wird. Dem Lesen soll eine Diskussion zum Inhalt des Artikels folgen, die in der Sprache des Artikels geführt wird. So bekommt das Fach eine aktuelle und lebendige Note. Adele kauft die ‘Le Monde’ am Zeitungsstand im Bahnhof und macht vom Leitartikel zwanzig Fotokopien am Kopiergerät im Haus der Inneren Mission. Der ausgewählte Artikel bringt den Vorschlag zum weltweiten Moratorium der Atomrüstung und Atomwaffenarsenale, vorgetragen vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy am Ende seiner europäischen Ratspräsidentschaft. Ein aktuelles Thema, das von globaler Bedeutung ist.
Ein anderer Artikel auf der dritten Seite befasst sich mit der Geschichte des gewählten neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der noch vier Wochen davon entfernt ist, die Amtsgeschäfte von George W. Bush am 20. Januar 2009 zu übernehmen. Der Artikel hebt die Frage dick in die Überschrift, wie der neue Präsident die Wirtschaft aus der Rezession herausholen und auf den Terrorismus und die Krisenherde in Irak und Afghanistan reagieren wird. Auch dieser Artikel ist von hoher Brisanz, wenn auch Adele von Fotokopien dieses Artikels zunächst absieht.
Sie spricht ihre schulischen Vorbereitungen mit den Eltern durch, die erleichtert und erfreut sind, dass Adele eine Lehrstelle am Augusta-Gymnasium gefunden hat, weil das väterliche Einkommen als Missionspfarrer doch klein ist, um die Existenz der Familie mit dem kleinen mongoloiden Simon in bescheidenen Grenzen zu erhalten. Seit langem wird auf Dinge verzichtet, die keine Luxusdinge sind, um genug Speise auf den Tisch zu bringen und die nötige Kleidung zu beschaffen. Mutter Brigitte hat es wiederholt gesagt, dass sie gerne die französische Sprache lernen würde. Sie fragt die Tochter, ob sie nicht etwas von ihrer Zeit erübrigen könne, um ihr zu Hause den Unterricht zu geben. Sie als Mutter wolle fleißig die Vokabeln lernen und die Aufgaben erledigen, um die Tochter nicht zu enttäuschen. Adele lächelt und meint, dass sich das an den Abenden schon machen ließe. “Dann halten wir uns aber nicht lange bei der Vorrede auf”, drängt die Mutter, worauf Vater Bardenbrecht ein erstauntes Gesicht macht und sagt: “Brigitte, du gehst ja heran wie Blücher.” Adele fügt hinzu, dass dann bald französisch zu Hause gesprochen werden wird. “Mir ist das gute Deutsch doch näher”, erwidert Vater Bardenbrecht. Darauf meint Mutter Brigitte, dass eine Fremdsprache noch nie den Horizont eingeengt hat. “Eingeengt nicht, aber getrübt”, setzt Vater Bardenbrecht mit einem Lächeln hinterher.
Am Montag, dem Tag ihres Dienstantritts, erscheint Adele Bardenbrecht kurz vor acht im Lehrerzimmer des Augusta-Gymnasium. “Sie sind doch viel zu früh. Ihr Französisch-Unterricht ist doch erst in der vierten Stunde”, sagt Frau Dr. Grosser, die Seniorin im Kollegium, die seit siebzehn Jahren Deutsch und Geschichte in der Mittel- und Oberstufe unterrichtet. “Ich weiß”, erwidert Adele. “Dann wollen Sie die Atmosphäre eines Mädchengymnasiums riechen, dem schon eine Zahl komischer Dinge nachgesagt wird, die vom Drogenbesitz, über die Teenschwangerschaft bis zur Nötigung und Komplizenschaft in einem Mordfall nachgesagt wird”, führt Frau Dr. Grosser aus. Adele macht ein betroffenes Gesicht, worauf die Seniorin mit dem Doktorgrad ergänzt, dass die Nötigung mit der Komplizenschaft schon mehrere Jahre zurückliegt. Der Fall sei aber bis auf den Tag nicht aufgeklärt worden, bei dem ein Mädchen aus der Oberprima, die die Beste in der Klasse war, ihr Leben durch Zudrücken der Luftröhre verloren hat. Die beiden in Verdacht geratenen Schülerinnen, eine Ober- und eine Unterprimanerin, seien auf dringendes Anraten der damaligen Rektorin von der Schule abgegangen. “Ein Mädchengymnasium ist kein Engelsgymnasium”, flicht eine andere Kollegin ein, die beim Rumsortieren in ihrer Tasche das Gespräch mitbekam.
Es klingelt zum Unterricht der ersten Stunde. Die meisten Kolleginnen und der junge Studienassessor Klein verlassen das Lehrerzimmer. Das Klingelzeichen ist verklungen, als der ältere Kollege mit voller Aktentasche und rotem Kopf das Lehrerzimmer betritt und sich über den Berufsverkehr erregt, bei dem er um Haaresbreite am Unfall vorbeigekommen sei. Ein Personenwagen hatte ihm die Vorfahrt genommen, als er dem Kreisverkehr folgte. “Es wird von Tag zu Tag verrückter. Die Disziplin ist auf einem Tiefstand angekommen, der tiefer nicht mehr gehen kann. Kein Wunder, dass die Disziplinprobleme auch an der Schule von Jahr zu Jahr größer werden”, sagt der Kollege Schwarz mit “brennenden” Augen, der Geographie in der Mittelstufe und Biologie in der Oberstufe unterrichtet. Er holt den Heftstapel aus der ausgebeulten Aktentasche, setzt sich an den Tisch und nimmt sich ein Heft nach dem andern vor, um die Klassenarbeit über die Länder Europas, ihre landschaftlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten zwischen West und Ost mit den Zahlen zur Bevölkerung, Geburtenrate, der Kinderzahl pro Familie und der durchschnittlichen Lebenserwartung zu korrigieren. “Es ist hahnebüschend, was da ohne Sinn und Verstand rumgefaselt wird. Dabei gebe ich mir die größte Mühe, das breite Spektrum Europas in seiner Geographie mit den landschaftlichen und klimatischen Besonderheiten, den Bodenschätzen und ihrer Ausbeutung und Nutzung verständlich zu machen. Es scheint so, dass sich die Schülerinnen nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, sondern nur noch dem nachgehen, was sie gerade im Kopf haben”, sagt Studienrat Schwarz in Art eines Monologs am langen Tisch, wobei der größere Stoß von Heften noch auf die Durchsicht wartet. Da rutscht es der Studienrätin Müller heraus, die am anderen Tischende sitzt und sich auf ihren Unterricht in Chemie für die zweite Stunde in der Obersekunda vorbereitet: “Was haben die denn im Kopf?” Studienrat Schwarz hält seinen Blick ohne eine Miene zu verziehen auf das Heft gerichtet, in dem er gerade korrigiert: “Genau weiß ich es nicht. Doch denke ich, dass es bei den hormonellen Explosionen die Jungen sind, die ihnen in den Köpfen rumschwirren, dass für den Lernstoff kein Platz mehr ist.” “Das ist gut möglich”, stimmt Studienrätin Müller mit einem verständnisvollen Lächeln zu und sagt, dass auch das Unterrichtsfach eine Rolle spielt, das Interesse der Schüler zu wecken und die Konzentration zu disziplinieren. Darauf blickt Studienrat Schwarz über die lange Tischplatte Richtung Kollegin Müller: “Die Gören sind doch alt genug, um zu wissen, dass sie in der Schule zu lernen und nicht zu dösen haben.”
Das Pausenzeichen nach der dritten Stunde läutet. Adele Bardenbrecht packt ihre Sachen in die Tasche und sieht sich im Geiste schon vor den Mädchen in der Klasse mit den französischen Sätzen zur Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft und europäischen Völkergemeinschaft. Was sie hört, ist das Gewirr redender Stimmen auf den Geschossfluren. Die Direktorin betritt das Lehrerzimmer und geht auf Adele zu. “Ich hoffe, Sie sind nicht aufgeregt, Frau Bardenbrecht”, sagt sie mit einem schmallippigen Lächeln, “ich stelle Sie der Klasse vor.” “Das ist sehr freundlich von Ihnen”, bedankt sich Adele. “Wie ich schon sagte, lassen Sie mich wissen, wenn es Probleme gibt”, fügt Frau Weißwasser hinzu. Es klingelt zur vierten Stunde. “Good luck!”, sagt Studienrätin Elgin mit den blauen Augen und der Brille mit dem braunen Gestell auf dem schmalen Nasenrücken, die seit neun Jahren Englisch in der Oberstufe unterrichtet. Auch die anderen Kolleginnen und die beiden Kollegen wünschen der neuen Französisch-Lehrerin viel Glück. Einige sagen “bonne chance!”, und Frau Direktor Weißwasser führt Adele zur Klasse 12A in einem Seitenflügel des Obergeschosses.
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