“Nehmen Sie Platz, Frau Bardenbrecht”, sagt die Direktorin, die hinter dem Schreibtisch ihren Stuhl einnimmt. “Sie haben sich also für das Augusta-Gymnasium entschieden, und ich gratuliere Ihnen zu diesem Entschluss, Französisch an den beiden Klassen der Oberstufe zu unterrichten. Ich bin überzeugt, dass Ihnen das Unterrichten die Befriedigung im Lehrberuf bringen wird, wenn von den möglichen Störungen durch mangelnde Disziplin einmal abgesehen wird. Sollten Sie Probleme haben, die Disziplin herzustellen, dann zögern Sie nicht und lassen es mich wissen.” Adele wundert sich über die frühe Erwähnung von Disziplinproblemen und fragt Frau Weißwasser, ob es nicht schon früher diese Probleme an den Schulen gegeben habe. Die Direktorin sagt es mit einem dünnen Lächeln, dass es diese Probleme immer schon gegeben hat. Sie macht ein ernstes Gesicht, als sie bemerkt, dass die Disziplin von Jahr zu Jahr größere Probleme gibt, weil die Erziehung in den Elternhäusern immer mehr zu wünschen übrig lässt. Es sind die Schülerinnen der Unter- und der Mittelstufe, die durch mangelnde Konzentration, fehlende Mitarbeit und schnodderige Bemerkungen den Unterricht stören. Sie werden ermahnt, das mündlich und auch schriftlich, wenn es nötig ist. Doch gibt es Schülerinnen, bei denen eine Besserung nicht festzustellen ist, dass sie schließlich von der Schule verwiesen werden. “Neben der schulischen Grundausbildung für das Wissen kommen in zunehmendem Maße erzieherische Maßnahmen hinzu, was die Arbeit für die Lehrer erschwere.” So erklärt die Direktorin die gegenwärtige Lehrsituation am Augusta-Gymnasium für Mädchen. Sie bittet Adele Bardenbrecht, am Nachmittag um drei zur Schule zu kommen, damit sie dem Lehrerkollegium vorgestellt werden kann. Am Schluss fragt Frau Weißwasser, wie lange Adele in Frankreich gewesen sei. “Ein Jahr”, antwortet Adele, ohne auf die Einzelheiten ihrer Beziehung zu Etienne Marcel einzugehen.
Am Nachmittag ist Adele pünktlich im Sekretariat. “Nehmen Sie bitte Platz, ich bin gleich bei Ihnen”, ruft Frau Weißwasser durch die offene Tür aus dem Direktorzimmer. Die Dienststunden für Frau Grimmich waren beendet, denn der Schreibtisch im Sekretariat ist verwaist, die Tischplatte aufgeräumt und der Stuhl untergeschoben. Nach einigen Minuten kommt Frau Weißwasser aus ihrem Zimmer, geht auf Adele zu und gibt ihr die Hand. Sie bittet Adele, ihr zum Konferenzraum zu folgen. Es ist ein großer Raum im Parterre mit drei großen Fenstern zum Schulhof, in dem zwei hohe Birken stehen. An dem Tisch von sieben Meter Länge und einmeterfünfzig Breite hat das Lehrerkollegium die Plätze eingenommen. Lehrerinnen aller Altersgruppen und zwei Lehrer, von denen einer in den mittleren Jahren und der andere noch jung ist, verteilen sich an den Längsseiten des Tisches, acht auf der einen Seite und fünf auf der anderen Seite. Die Direktorin stellt Frau Bardenbrecht als neue Französisch-Lehrerin dem Kollegium vor und bittet sie, den Platz neben ihr auf einem der beiden Stühle in der Mitte der der Fensterfront zugewandten Längsseite des Tisches mit fünf sitzenden Kolleginnen einzunehmen.
Bei der Vorstellung nennt Frau Weißwasser die Namen der am Tisch sitzenden elf Kolleginnen und zwei Kollegen mit den jeweiligen Unterrichtsfächern. Die Vorstellungsrunde erfolgt im Uhrzeigersinn. Dabei hebt die Direktorin Frau Dr. Grosser hervor, die sich durch ihr blasses Gesicht mit den reloluten Zügen und dem weißen Haar auszeichnet und die älteste Kollegin an der Schule ist und seit siebzehn Jahren die Fächer Deutsch und Geschichte in der Mittel- und Oberstufe unterrichtet. Als vorletzten Kollegen erwähnt Frau Weißwasser den Studienassessor Klein, der am rechten Ende der Tischseite gegenüber sitzt. Der Assessor ist der Jüngste in der Tafelrunde, der den Dienst vor fünf Monaten angetreten hat und die Fächer Mathematik und Physik unterrichtet. Herr Klein steht bei Nennung seines Namens auf und schickt ein Lächeln der Direktorin, die es ihm in abgemilderter Form erwidert. Adele fällt auf, dass sein Name mit der körperlichen Kürze auf das Vollkommenste übereinstimmt.
Nach Beendigung der ersten Runde bittet Frau Weißwasser die eben vorgestellte neue Lehrkraft, einen kurzen Abriss aus ihrem Leben und Studium zu geben. Die Augen des Kollegiums richten sich mit dem Ausdruck des erhöhten Interesses und der Sympathie auf Adele, die sich auf einigen Gesichtern zum Lächeln der Zustimmung steigert, als sie erwähnt, dass ihr Vater der Missionspfarrer Peter Bardenbrecht ist, der durch seine Tätigkeit für die Waisenkinder und Gestrandeten einen geachteten Namen erarbeitet hat. Adele spricht von ihrer guten Kindheit in einer intakten Familie, wo Vater und Mutter zusammenstehen und die Probleme des täglichen Lebens mit den Brandungen mit vereinten Kräften angehen. Sie sagt, dass es der tiefe Glaube ihrer Eltern sei, der ihnen die Stärke gab, dass die Familie nicht an den Schlagwellen der großen Stürme zerbrach.
Adele erwähnt die Studienjahre an der Universität, in denen sie die Fächer klassische Philosophie, Latein und Französisch belegt und mit guten Prüfungsnoten abgeschlossen habe. Was sie nicht erwähnt, ist der Unfall in Österreich mit dem Schädelhirntrauma und der Kopfoperation in Innsbruck, den danach aufgetretenen epileptischen Anfällen und der zweiten Operation zur Entfernung eines Hirnhauttumors. Ungenannt bleiben auch die Beziehung mit dem Studenten Klaus Korn und der Schwangerschaft mit der Frühgeburt. Die Kurzehe mit dem jungen Elektro-Ingenieur Etienne Marcel behält sie für sich und so die Existenz des mongoloiden Simon, der aus dieser Kurzehe hervorgegangen ist.
Dem Kurzvortrag folgt eine Diskussion, in der sie unter anderem nach ihrem einjährigen Frankreichaufenthalt befragt wird. Es ist die Studienrätin Elgin, eine Mittvierzigerin mit blauen Augen, einer Brille auf dem schmalen Nasenrücken und den Grausträhnen im dunkelblonden Haar, die seit neun Jahren Englisch an der Oberstufe unterrichtet. Sie fragt, ob der Frankreichaufenthalt der Sprache galt oder noch andere Gründe hatte. Hier setzt Adele Bardenbrecht den Sprachpunkt obenan und sagt, dass ihre Sprachkenntnis und Ausdrucksfähigkeit durch das praktische Jahr in Frankreich die wesentliche Erweiterung und Vertiefung brachte. Bezüglich des zweiten Teiles der Frage, ob es noch andere Gründe für den Frankreichaufenthalt gab, sagt Adele, dass sie einige Freundschaften geschlossen habe, was der Wahrheit nicht entspricht und die in Brüche gegangene Kurzehe mit Etienne Marcel verbergen soll. Als würde er die Unebenheit in der Beantwortung des zweiten Teiles ahnen, fragt der kurzgewachsene Studienassessor Klein, ob die Erweiterung der Sprachkenntnis mit der Vertiefung der Ausdrucksfähigkeit nicht auch in der Bundesrepublick hätte erzielt werden können, wo es genügend Franzosen und französische Sprachinstitute gibt. “Das mag sein. Doch besser als die Sprache im Land ihrer Herkunft zu sprechen, kann es doch nicht sein”, erwidert Adele. Darauf stellt Studienassessor Klein keine weitere Frage.
Oberstudiendirektorin Weißwasser schließt das Vorstellungsgespräch, nachdem keine weiteren Fragen vom Kollegium der Tafelrunde kommen. Sie teilt der Kollegin Bardenbrecht mit, dass sie in der kommenden Woche, der ersten Maiwoche, mit ihrem Unterricht beginnen kann. Sie könne sich das Französisch-Buch bei ihr im Direktorat abholen, wo sie, Frau Weißwasser, ihr zeigen werde, wo der momentane Klassenstand ist, beziehungsweise mit welcher Lektion der Unterricht samt den grammatischen Übungen fortzusetzen ist. Es werden noch technische Dinge in der Änderung des Stundenplans für die Klassen der Oberstufe besprochen, die mit Eintritt von Frau Bardenbrecht in den Schuldienst notwendig geworden sind. Damit geht die Nachmittagsbesprechung zu Ende, und Direktorin Weißwasser dankt den Kolleginnen und Kollegen für ihr Erscheinen.
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