Die Wortkanonade der Aabidah hatte sich gelegt, und der Traum schien sich beruhigt zu haben, dass sich Karl Ferdinand von einer Seite auf die andere drehte, als ein Zug eine lange Wagenkette vor dem inneren Auge vorüberzog. War schon die Kettenlänge ungewöhnlich, so waren die unzählbaren ausgemergelten Köpfe zwischen den nicht weniger vielen Totenköpfen hinter den Scheiben der Waggons im höchsten Maße erschreckend, dass sich Karl Ferdinand aufsetzte und den Angstschweiß aus dem Gesicht wischte. Einen solchen Zug hatte er noch nie im Traum vorüberfahren gesehen.
Es musste seine Bedeutung gehabt haben, dass ein solcher Zug mit der unvorstellbaren Menge solcher Köpfe ihn in Angst und Schrecken versetzt hatte, als er die Nacht nach der anstrengenden Arbeit dringend zum Schlaf der Entspannung und Erholung gebraucht hätte. Mit klopfendem Herzen und trocken geriebener Haut legte sich Karl Ferdinand zurück und machte sich auf die Suche einer Assoziation zu diesem Zugerlebnis. Das Grübeln ging bis in die frühen Morgenstunden, ohne dass er das Bild der vorüberfahrenden Kahl- und Totenköpfe zu einer passenden Traumassoziation bringen konnte. Er hatte sich verschlafen, als ihm unter der Brause die hageren Gestalten mit den Gesichtern der eingefallenen Wangen alter Menschen und die hochgradig abgemagerten Kinder vor dem geistigen Auge vorüberhuschten. Eine andere Möglichkeit, das Traumbild des Schreckens des vorüberfahrenden Zuges zu ergänzen und zu einer höheren Einheit zu verbinden, fand er nicht.
Mit den Morgenstunden wurde es klarer, dass man mit Menschen in der rücksichtslosen Grausamkeit einerseits und der wegblickenden, verantwortungslosen Gleichgültigkeit andererseits nicht weiter verfahren kann, wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, in der Raum, Gerechtigkeit und Chancengleichheit für die kommenden Generationen gesichert sind. Die chronische Unterernährung der Kinder mit dem Kwashiorkor ist die Geißel, die mit Armut, Not und Elend assoziiert ist, an der der Volksorganismus langfristig zerbricht und zugrunde geht. Die Achtung vor dem Wert und der Würde des Menschen ist unabdingbar, wenn die sozialen Verhältnisse in den Familien in Ordnung kommen sollen, soweit es im Rahmen der Kleinstgesellschaft zu schaffen ist. Die familiäre Regeneration im Sinne der Wiederherstellung von gegenseitiger Achtung mit Festigung der Zusammenhalts durch Motivation des Einsatzes füreinander und des Friedens und Vertrauens miteinander, was den Schutz der Kinder und der hilfebedürftigen Menschen einschließt, sind die Beweggründe, dass Karl Ferdinand sich als junger Arzt im Rahmen der >Ärzte ohne Grenzen< für die Arbeit in dem syrischen Flüchtlingslager entschieden hat.
Schwellensprung
Zwischen den Sternen ruhen sich die Nächte hin, die das Tageslicht verjagt. Ob leer, ob voll, im Zwischendrin ist das Kommen und Gehen von der Sprache bis zum Sprachlosen hin.
Was sich krümmt und kerkert, sich verkürzt bis auf den Punkt, es ist die ungeahnte Weite, sind Dinge von der Saat bis zur Ernte, wo der Mensch der Sämann ist, der aus der Hand wirft, was das Auge später nicht begreift.
Im Zwischendrin ist Leben zwischendurch, das sich denkend nach den Sternen streckt. Dazwischen sind Markierungslichter, die zeitlos blinken und nicht zu löschen sind.
Die Suche nach dem Licht verzweifelt, wenn die Wolkendecke nicht zerreißt. Auf dem Wege der Erklärung braucht’s das Licht, um im Zwischendrin die Kreuzung zu erkennen, was die Dunkelheit nicht tut.
Der Französisch-Unterricht und andere Erfahrungen am Augusta-Gymnasium für Mädchen
Adele Bardenbrecht entscheidet sich fürs Unterrichten von Französisch am Augusta-Gymnasium. Zu dieser Entscheidung haben wesentlich die Diskussionen mit den Eltern beigetragen, in denen Vater Bardenbrecht auf die Schwierigkeit verwies, Disziplinprobleme bei Jungen in der Oberstufe des Gymnasiums unter Kontrolle zu bringen. Mutter Brigitte zielte auf das zarte Nervenkostüm ihrer Tochter hin, die solche Probleme, wenn überhaupt, nur schwer hantieren würde. Da Montag ein Feiertag war, meldet sie sich am Dienstagmorgen gegen neun Uhr im Sekretariat bei Frau Grimmich, die ihr einen der beiden Wartestühle anbietet und sagt, dass Frau Oberstudiendirektorin Weißwasser in einer Besprechung sei, deren Dauer sie nicht abschätzen könne. So fasst sich Adele in Geduld und sieht aus der Fünf-Meter-Entfernung zu, wie Frau Grimmich auf ihrem Schreibtisch mit Eintragungen in die Kladde und dem Verschieben, Stapeln und Umstapeln von Heften und losen Papieren zugange ist. Das Telefon klingelt einige Male, in denen die Sekretärin mit freundlicher Bestimmtheit die Anrufer davon in Kenntnis setzt, dass Oberstudiendirektorin Weißwasser für die nächsten Stunden nicht zu sprechen ist. Ein Anrufer stellt mehrere Fragen, dass Frau Grimmich mit den Zeichen anfliegender Ungeduld zu kämpfen beginnt, was sie jedoch souverän meistert.
Es klingelt und mit Ende des Pausenzeichens setzt der Lärm durcheinander dringender Stimmen ein. Schülerinnen der Oberstufe wechseln sich ab, die das Sekretariat betreten und technische Fragen zum bevorstehenden Sportfest haben, die Frau Grimmich zur Zufriedenheit beantwortet. Es gibt Schülerinnen, die eintreten, ohne vorher angeklopft zu haben, dass Frau Grimmich diese Mädchen auf die Vorzüge der guten Erziehung hinweist. Adele beobachtet mit gewisser Neugier die späten Erziehungsversuche und wundert sich über die Gelassenheit, mit der die Schülerinnen die Zurechtweisung entgegennehmen, ohne einen roten Kopf zu bekommen oder ein Wort der Entschuldigung zu sagen. Sie zeigen keine Zeichen der Unsicherheit, wenn sie ihre Fragen an Frau Grimmich stellen, die sich dann bemüht, bei der Beantwortung der manchmal unnötigen Fragen die Ruhe ob der Dreistigkeit zu bewahren.
Die Fragen kreisen um die beiden Pole: erstens, ob gleich am Morgen die Sportkleidung zu tragen oder die Kleidung erst vor der Veranstaltung zu wechseln ist; und zweitens, ob Freunde als Zuschauer bei dem Sportfest zugelassen sind. “Was verstehen Sie unter Freunde?”, fragt Frau Grimmich die attraktive, voll proportionierte Schülerin der elften Klasse, die in der Antwort nicht herumdruckst und von den Jungen des anderen Gymnasiums spricht, die an der Veranstaltung ihr Interesse bekunden. Frau Grimmich, für die solche Fragen in den täglichen Routinebereich gehören, antwortet, dass sie diese Frage der Sportlehrerin stellen solle. Der Schülerin fällt darauf nichts ein. Sie verlässt das Sekretariat mit dem Gesicht der Unzufriedenheit. Frau Grimmich meint hinterher, als die Schülerin die Tür geschlossen hat und das Klingelzeichen zum Unterricht läutet, dass die gute Erziehung auch bei den Mädchen nachgelassen habe und bei vielen eine Mangelware geworden sei, die mit frühen Jahren die Jungens im Kopf haben, anstatt sich auf den Unterricht zu konzentrieren und seine Anforderungen zu erfüllen.
Adele kann dem nicht widersprechen und denkt an ihre Schulzeit, in der die Schule doch ernster genommen wurde. Auch treten Klaus Korn und Etienne Marcel, der eine als Kommilitone und der andere als junger Elektro-Ingenieur, in ihre Erinnerung, die durch mangelndes Steh- und Durchstehvermögen enttäuscht haben, der Kommilitone durch Unreife und der Elektro-Ingenieur durch Unverständnis mit dem fehlenden Fassungsvermögen, Vater eines mongoloiden Kindes geworden zu sein. Die abgebrochenen Beziehungen haben sie gelehrt, mit mehr Augenmaß dem anderen Geschlecht zu begegnen, weil Beziehungen meist zu früh die Intimzone berühren und dabei die Gefühle verletzen und die gesetzten Erwartungen zerreißen.
Nach einer halben Wartestunde, die den ersten Eindruck vom Betrieb am Mädchengymnasium gaben, tritt Frau Weißwasser, die Oberstudiendirektorin, mit dem straff zurückgekämmten Haar und einem Stapel von Heften unter dem linken Arm in Begleitung einer Primanerin ins Sekretariat. Sie bringt Bewegung ins Vorzimmer und begrüßt Adele mit Handschlag und dem Satz: “En Allemagne aussi, on laisse en repos ceux qui mettent le feu, et on persécute ceux qui sonnent le tocsin”, während die Primanerin die Sekretariatstür schließt. “Kommen Sie durch”, sagt Frau Weißwasser und öffnet die Tür zum Direktorzimmer, geht voraus und legt den Heftstapel auf den beladenen Schreibtisch. Sie gibt der Primanerin in Bezug auf die beschädigte geographische Weltkarte einige Anweisungen zur Reparatur, die darauf das Direktorzimmer verlässt und die Tür zum Sekretariat schließt.
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