Er nahm den Stubenbesen und wollte mich verprügeln. Ich konnte ihm den Besen entwinden und drückte ihm den Stiel quer vor die Brust. Er verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts auf ein Bett. Hier hielten Lucky und ich ihn fest. Wir konnten ihn dann beruhigen und bedachten den abwesenden PHK Fischer mit allerlei Schimpfworten.
Nach dem Wochenende erfuhren wir, dass Jimmy nicht nach Hause gedurft hatte. Bei der Nachkontrolle am vergangenen Freitag um 15 Uhr hatte sich Fischer den ganzen Spind noch einmal vorgenommen. Als er mit dem Finger die Oberkante der Schranktür entlanggefahren war, hatte er Staub am Finger. Dies veranlasste ihn dazu, Jimmy nicht nach Hause zu lassen.
Wir arrangierten uns mit dieser Schikane. Jeder von uns baute absichtlich kleine Nachlässigkeiten ein. Lucky ließ mal ein Porno-Heftchen im Bücherfach des Schrankes liegen, ich vergaß absichtlich den Steg der Schuhsohle auf Hochglanz zu polieren und so weiter. Nichts davon führte zu einer Nachkontrolle, aber Fischer und Konsorten waren zufrieden, etwas gefunden zu haben. Jimmy putzte jetzt 1000-prozentig und wurde fortan verschont.
Atze
Hauptkommissar Dunkel, genannt „Atze“, unser Hundertschaftsführer, war ein ausgemachtes Arschloch. Einen Meter fünfundsechzig klein, trug er Schuhe mit höherem Absatz. Seine Haare hatte er aus allen Himmelsrichtungen mittels Haargel und Spray sturmfest über seine Platte geklebt. Dafür hatte er nun drei Scheitel, links, rechts und am Hinterkopf.
Atze war in seiner Karriere zum ersten Mal Hundertschaftsführer und hatte den 4. Zug zu seinem Lieblingszug erkoren, vermutlich weil die meisten seine Größe hatten. Er benahm sich wie eine Mischung aus Napoleon und Adolf. Die kleinen Jungs vom 4. Zug wurden zu allerhand Sonderdiensten herangezogen, einige durften bei ihm privat den Garten pflegen, einige waren seine persönlichen Adjutanten und wurden zum Einkaufen geschickt. Und sie liebten es! Die meisten Gruppenführer unterwarfen sich ihrem Führer völlig. Nur August nicht, doch dazu später. Wir „Ausgelagerten“ vom 1. Zug betrachteten dies alles mit echtem Ekel.
Schneechaos
Schließlich kam der Winter 78/79. Ich hatte inzwischen meinen Motorradführerschein gemacht und fuhr regelmäßig mit meinem vom Nachbarn erstandenen alten Heinkel-Motorroller zur Ausbildungsstelle. Hierdurch verkürzte sich die Anreise um fast eine Stunde. In diesem Winter musste ich allerdings wieder auf Bus und Bahn umsteigen, es schneite fortlaufend.
Im Februar 1979 kam der Sonntag mal wieder viel zu früh, ich musste los. Das Schneien war inzwischen schon zum Schneesturm angewachsen. Auf den letzten Drücker kam ich doch noch zur Kaserne. Die ganze Nacht tobte der Sturm. Am nächsten Morgen fiel das Wecken aus. Ich war allein auf der Stube. Draußen lag meterhoch die weiße Pracht. Ich zog mich pflichtbewusst an und wollte das Haus verlassen. Eine zwei Meter hohe Schneewehe verschloss die Tür. Aus einigen anderen Stuben kamen Kollegen, die es, wie ich, noch geschafft hatten, anzureisen. Gemeinsam verließen wir das Gebäude durch ein Fenster der Lee-Seite und versackten teils bis zum Bauch im Schnee. Inzwischen war auf der Fahrstraße ein Radlader zu uns vorgedrungen. Wir wurden mit Schaufeln und Schneeschiebern ausgerüstet und durften den 300 m langen Weg zur Kantine durch meterhohen Schnee schaufeln. Völlig abgekämpfte gab es nach vollbrachter Arbeit erst einmal Frühstück. Weniger als die Hälfte der Polizeischüler hatte es geschafft, die Kaserne zu erreichen. Nach und nach trudelten in der Woche noch einige ein. Am Wochenende war nicht daran zu denken, nach Hause zu fahren. Die Schneekatastrophe beherrschte das ganze Land. Wir wurden zu einigen Schneeschaufeldiensten auch außerhalb der Kaserne herangezogen. Auch das nahe gelegene Altenheim wurde befreit.
Zeltlager
Im Rahmen der Ausbildung durften wir auch in ein Zeltlager, einem eigens für die Polizei angelegten Terrain an der Ostsee. An unseren Platz grenzte ein Jugendlager der Pfadfinder. Wir genossen das super Wetter, die Sonne strahlte, die Märsche und sonstigen sportlichen Ausbildungsübungen trübten unsere Laune nicht. Atze hatte seinen Spaß an einem Boxturnier. Hierzu ließ er in der Mitte des Zeltplatzes aus Pfählen und Seilen einen Ring bauen. Jeder Zug sollte seinen Champion ausboxen. Freudig erregt, dem Rumpelstilzchen nicht unähnlich, hüpfte Atze um den Ring, wenn seine „Jungs“, wie er sie nannte, aufeinander einschlugen. Ging einer zu Boden, wurde er aufgestachelt, weiter zu fighten. Dies ging so lange, bis Blut floss. Dann war PHK Dunkel zufrieden. Wir vom ersten Zug hatten untereinander die Variante „Halbkontakt“ abgemacht. Schlagen und treffen ja, aber nur mit Halbgas. Und wenn jemand zu Boden musste, sollte er liegen bleiben. So zogen wir es auch durch, keiner blutete und ich wurde sogar zweiter im Zug, nachdem ich Jimmy versehentlich etwas zu heftig niedergestreckt hatte. Er war pausenlos wie ein wutblinder Stier auf mich losgestürmt, ich musste nur ausweichen. Ein kurzer Haken auf die Leber ließ ihn zusammenbrechen, wie von der Axt gefällt. Jimmy tat mir leid, ich entschuldigte mich sogleich.
Am Abend musste dann natürlich das Turnier gefeiert werden. Hoch die Tassen. Es gab Schnaps und Bier satt. Laute Musik und Gegröle riefen irgendwann zu vorgerückter Stunde die Betreuer der benachbarten Pfadfinder auf den Plan. Sie beschwerten sich bei unserem Anführer Atze. Atze jagte sie pöbelnd unter Androhung von körperlicher Gewalt vom Gelände. Jetzt wurde es Zeit für mich, die Bühne zu verlassen. Weitere Peinlichkeiten waren zu erwarten.
Ich lag kaum in meinem Schlafsacke, da stupste mich Lucky an:
„Alter, komm mal mit, das musst Du sehen. Aber sei leise!“ Gemeinsam schlichen wir Richtung Feierplatz. Ich traute meinen Augen nicht. Ungefähr zehn seiner „Jungs“ waren noch bei Atze. Er ließ sie abwechselnd zur Musik über die Tische tanzen und klatschte frenetisch Beifall. Aber es kam noch schlimmer. Atze befahl:
„So, jetzt alle mit nacktem Arsch! Hosen runter!“
Und die Jungs gehorchten freudig. Mit wehenden Pimmeln hüpften sie im Takt der Musik kreischend über Tische und Bänke. Atze strahlte. Plötzlich kam Polizeimeister August um eine Zeltecke. August sollte diese Nacht Wache schieben. Er erfasste die Situation und rannte los, seinen Zugführer zu wecken. Mit Zugtruppführer und Zugführer im Schlepptau kam er nach einigen Minuten wieder. Atzes Jungs hüpften und grölten immer noch ohne Hosen.
Zu dritt schritt die Eingreiftruppe auf ihren Chef zu und nahm ihn in die Mitte. Die Jungs wurden angewiesen, sich sofort zu bekleiden und in den Zelten zu verschwinden. Mit sanfter Gewalt wurde der völlig betrunkene Hundertschaftsführer in sein Zelt geleitet.
Lucky und ich waren jetzt putzmunter. Wir hockten uns ans Feuer und tranken Bier. Die beiden Müller, beide auf einer Stube, kamen noch dazu. Müller1 konnte Gitarre spielen. Er klimperte leise, wir lauschten schweigend und tranken.
„Ey, ihr! Dürfen wir rüberkommen?“ Eine leise Mädchenstimme rief uns.
„Klar doch, kommt rüber“ meinte Lucky. Aus dem Pfadfinderlager huschten drei hübsche, junge Mädels zu uns.
„Ich heiß Anne, das sind Marei und Jutta“, stellte Anne ihre Freundinnen vor.
„Wir wollten noch ein wenig Musik hören, jetzt wo das Theater vorbei ist“, sagte Jutta.
„Welches Theater?“ fragte ich, schon ahnend, dass die Nackttanzeinlage von Atzes „Jungs“ aus dem Pfadfinderlager beobachtet worden war.
„Na die hüpfenden Polizeiwürstchen“, meinte Marei.
Diese Nacht wurde lang. Das Ende erinnere ich bis heute nicht. Ich versuche mal, die Erzählungen von Lucky und Müller2 wiederzugeben:
Irgendwann in der Nacht habe sich noch eine Monika zu uns gesellt. Mit dieser Monika sei ich irgendwann in unserem Gruppenzelt verschwunden. Nach heftigem Liebesspiel in verschiedenen Stellungen sei Monika gegen Morgengrauen ins Pfadfinderlager zurückgekehrt. Da ich weder von Monika noch von irgendwelchen Handlungen wusste, nahm ich an, dass Müller2 und Lucky mich auf die Rolle nehmen wollten.
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