„Ich will Ihnen etwas zeigen, Kim.“
„Park, mein Name ist Park. Bitte nennen Sie mich Herr Park !“
„Natürlich, Kim. Ich respektiere, dass Sie nicht zu sich stehen. Im Grunde ist das ja eine Phase, die jeder mal hat, oder? Wie auch immer. Hinter meinem Rücken verbirgt sich Wahrheit. Und Sie wissen mittlerweile, oder Sie können es sich zumindest denken, wie kritisch ich gegenüber den Medien bin. Denn wenn die Medien grundsätzlich auf Täuschung aus sind, dann muss das meiste von dem, was sie berichten, falsch sein. Logisch, nicht wahr?“
Kim sah mich ausdruckslos an. Klar, dachte ich. Gerade ihm als Diktator erzähle ich damit ja wirklich nichts Neues. Es war sinnlos und gar nicht notwendig, so geheimniskrämerisch zu sein. Irgendwie hatte ich aber gerade Spaß daran.
„Nun, das wissen Sie ja besser als ich. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich altklug erscheine. Jedenfalls befindet sich hinter meinem Rücken eine der wenigen Ausnahmen. Aber sehen Sie einfach selbst!“
Ich streckte Kim meine leeren Hände entgegen.
„Was Sie hier sehen, ist nichts. Es ist exakt das, was seit einigen Tagen über Sie berichtet wird: Nichts. Die Presse schweigt. Weil es tatsächlich nichts zu berichten gibt. Das ist ungewöhnlich, denn Sie hätten längst schon wieder in der Öffentlichkeit erscheinen müssen. Im Vergleich zu den vorigen Monaten, meine ich. Aber ich bin sicher, dass schon bald wieder über Sie berichtet wird: Wenn nicht mehr ignoriert werden kann, dass Sie verschwunden sind. Was hatten Sie denn vor, Kim? Ich nehme an, Sie wollten einfach spontan ein bisschen Kurz-Urlaub in Ihrer Zweitheimat machen, richtig? Oder wollten Sie etwa durchbrennen? Wird Ihr Leibwächter jetzt exekutiert? Meine kleine Aktion scheint Ihre Leute ja mächtig durcheinanderzubringen!“
„Ich will nach Hause“, stammelte Kim.
Er war überfordert. Vielleicht sollte ich ihn in Ruhe lassen, wenigstens für ein paar Stunden. Ich wollte keinesfalls wirken, als würde ich es genießen, dass er sich schämte.
„Sie werden nach Hause kommen, Kim! Deswegen sind Sie ja hier: um nach Hause zu kommen! In ein richtiges Zuhause, nicht in ein künstliches, pseudo-kommunistisches Brutalo-Disneyland. Sie werden frei sein – vorausgesetzt, Sie akzeptieren Ihre Lage. Radikale Akzeptanz!“
Kim sackte zusammen, soweit das noch möglich war, denn er saß sowieso schon immer recht schlaff auf oder vor dem Bett, und starrte in das Nichts, das sich zwischen uns auftat.
„Schade“, sagte ich in die Stille hinein. „Schade, dass Sie nicht den Mut haben, sich zu stellen. Sie könnten so viel Wertvolles erzählen und bewirken. Na gut, ich lasse Sie jetzt allein.“
Als ich noch mal zu ihm sah, bevor ich den Bunker verließ, flackerte etwas über Kims Gesicht, als hätten ihm meine Worte zu denken gegeben. Vielleicht hatte ich mir das aber auch nur eingebildet.
Kathi hörte sich an, als hätte sie damit gerechnet, dass ich sie anrufen würde. Sie schien perfekt vorbereitet zu sein, als es darum ging, etwas zusammen zu unternehmen. Die Schlucht, meinte sie, ich müsse unbedingt die Schlucht sehen. Sie sei einer ihrer Lieblingsorte. Sie fahre oft allein dort hin, um Tiere zu beobachten und zu singen. Sie lachte, das klinge furchtbar kitschig und vielleicht sei es das ja auch, aber dann nehme sie eben in Kauf, kitschig zu sein. In jedem Fall sei die Schlucht sehenswert. Etwas brandete in mir auf. Ich fühlte mich, als hätte ich etwas Besonderes geleistet. Ich meinte, ich sei einverstanden. Sie sagte, sie freue sich. Ich müsse aber, gab sie zu bedenken, etwas risikofreudig sein. Denn bei Eis und Schnee sei es in der Schlucht nicht ungefährlich. Ich meinte, ich sei mir des Risikos bewusst, ich hätte selbstverständlich die aktuelle Wetterlage sowie die Vorschau analysiert und würde mich jetzt auch speziell über die Schlucht im Winter informieren. Das sei weise, meinte Kathi und etwas raschelte am Hörer, vielleicht hatte sie gekichert.
So viel vorweg: Mit der Schlucht hatte Kathi tatsächlich nicht zu viel versprochen. Ich war durch eine ausgiebige Internetrecherche allerdings auch recht gut vorbereitet. Es wäre mir unangenehm gewesen, allzu überrascht zu wirken.
Auf dem Parkplatz stand außer meinem Auto nur noch ein weiteres. Das sei vom Ranger, meinte Kathi. Wir dürften uns also nicht erwischen lassen, sonst schimpfe er mit uns, sagte sie kichernd. Von Winterwanderungen werde offiziell abgeraten, um unkundige Touristen vor sich selbst zu schützen. Was für sie wichtiger als die eigene Sicherheit sei, meinte Kathi, sei der Schutz der Tiere, die man schnell verschrecken könne. Sie wisse aber, wo wir wandern könnten, ohne eine Gefahr darzustellen. Ich meinte, das sei so ähnlich wie bei meiner Arbeit. Ich müsse mich auch immer in die Rolle des Bösewichts hineinversetzen, um Sicherheit herzustellen. Ja, meinte Kathi, das sei wohl vergleichbar. Wir würden also genau da laufen, wo ein Bösewicht niemals anzutreffen wäre.
Wir stapften durch den Schnee, um uns herum schwere Stille. Die hohen, dunklen Bäume duldeten uns schweigend. Dann wurde ein Geräusch immer lauter, zunächst dachte ich, es wäre nur in meinem Kopf. Wir erreichten einen Wasserfall, der zum größten Teil eingefroren, aber immer noch stark genug war, um ein vereinnahmendes Rauschen zu erzeugen. Wir kletterten über eine Leiter weiter hinauf, das Wasser war plötzlich direkt an meinem Ohr, es fauchte wie ein wildes Tier, das sich zurückhielt, aber keinen Zweifel an seiner Überlegenheit ließ.
Kathi erklärte mir eine ganze Menge, während wir weiterstapften, sie wusste erstaunlich viel über Pflanzen und Tiere und über geologische Hintergründe. Ich konnte mir das alles gar nicht merken, ich hörte eigentlich mehr auf den Klang ihrer Stimme, die wie das Rauschen des Wildwassers durch die Schlucht zog, beobachtete ihre Bewegungen und war immer wieder fasziniert davon, wie sehr sie im Einklang mit allem war. Kathi fragte mich, ob alles in Ordnung sei mit mir. Ich sagte, ja, das sei es, sehr sogar. Gut meinte sie, denn jetzt würden wir ein Stück über vereiste Trampelpfade laufen, da wolle sie sicher sein, dass ich konzentriert war. In der Tat war diese kurze Strecke nicht einfach zu begehen und ein paar Mal rutschte ich aus und hatte Mühe, die Panik angesichts des Kontrollverlusts zu verbergen. Als wir die Strecke hinter uns ließen, fragte ich unauffällig, ob wir zurück einen anderen Weg nehmen würden. Sie meinte, ja, denn sie wolle mir das nicht mehr als einmal antun. Das sei es aber Wert gewesen, stellte sie fest. Ich nickte bejahend.
Als wir am frühen Abend vor ihrer Haustür standen, war ich überrascht, dass sie mir schon ein nächstes Treffen vorschlug. Ich wollte sie umarmen, sie wich zurück. Ich meinte, ich wolle mich gerne wieder mit ihr treffen. Sie umarmte mich und wir verabschiedeten uns wortlos. Das war ein höchst interessanter Tag.
Ich muss mehr auf Kim zugehen. Eine Möglichkeit dazu ist, ihm Essen zu geben, das er mag und gewohnt ist, ihn rauchen zu lassen und ihm angemessene Unterhaltungsmedien zur Verfügung zu stellen.
Ich ging einkaufen. Eigentlich war es etwas empathielos von mir gewesen, Kim ausschließlich regionales Gemüse und reines Wasser anzubieten, als wäre er auf meinem Level. Kim konnte für so etwas noch nicht bereit sein, er brauchte billige Kohlenhydrate, jede Menge tierische Fette, Salz und natürlich Zucker. Kurz: Alles, was er eben so gewohnt war.
Ich lief durch den Supermarkt wie als Zombie getarnt, die anderen erkannten nicht, dass ich keiner von ihnen war. Es machte wirklich Spaß! Dabei war ich ja selber die meiste Zeit meines Lebens so gewesen: Auch ich hatte jahrelang völlig gedankenlos Lebensmittel in mich hineingestopft, die diesen Namen gar nicht verdienten. Pizza, Chicken Nuggets, Burger, Eis, Cola. Das Grauen, das Grauen!
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