Die Natur um ihn herum scheint das alles nicht zu interessieren, es ziehen keine düsteren, schwarzen Wolken am Himmel auf, die sein Dilemma dramatisch untermalen. Die Sonne strahlt nach wie vor weiter fröhlich von diesem malerischen Himmel herunter und die vielen wilden fleischfressenden Pflanzen laben sich mit Genuss an der einen oder anderen geschnappten Mücke. Einmal an einem klebrigen Tropfen des Sonnentaus festgehangen, gibt es für die kleinen Insekten kein Entkommen mehr. Genau wie in den eingerollten Blattfängen des Fettkrautes, werden hier die kleinen Insekten bei lebendigem Leibe verdaut.
Von Verdauungsproblemen oder gar einer Beeinflussung ihrer Photosynthese wissen sie nichts.
Die kleinen, unscheinbaren und zerbrechlichen Organismen kennen keine solchen Schwierigkeiten, wie sie der Zweibeiner, der sie gerade so rücksichtslos zerdrückt, im Moment hat.
Was stellt sich dieser seltsame Mensch denn so an? Dieses Wesen, das der so großen und übermächtigen Rasse der Menschen angehört, die doch in jeder Hinsicht stets meint, sich über die Natur stellen zu können?
Ist das intelligenteste Wesen des Planeten Erde nicht in der Lage, das zu tun, was ausschlaggebend dafür war, dass sich vor 4,57 Milliarden Jahren erste primitive Einzeller entwickeln konnten, nämlich zu atmen?
Wenn Sonnentau Gefühle für andere Lebewesen empfinden würde, er täte sich kringeln vor Schadenfreude, dass die Tautropfen nur so flögen! Doch so ist ihm der kniende, dem Erstickungstod nahe Zweibeiner einfach nur egal und er ist froh, wenn er nicht komplett von ihm erdrückt wird.
Eriks Augen sind inzwischen stark hervorgequollen, er liegt zusammengekrümmt auf dem weichen, leicht feuchten Moos. Seine Hände umklammern wie Klauen seinen Hals.
Ihm wird schwarz vor Augen.
Ein letztes Röcheln kommt über seine Lippen, dann ist es still auf der Anhöhe.
1.) Erster Akt: Lomsdal – Visten Sommer 2016
Weiter, weiter, nur nicht stehen bleiben. Der Rucksack blieb wieder einmal im nassen Geäst hängen, fahrig zog sie an ihrem Schulterriemen und war wieder frei. Ihre schwarzen schulterlangen Locken, die sonst wild in alle Richtungen abstanden, hingen ihr in patschnassen Strähnen in die Augen und behinderten ihre Sicht. Sie wirkte auf den ersten Blick zart und zierlich, doch sie war zäh wie Hosenleder, das hatte sie bereits auf unzähligen Wanderungen durch die Natur bewiesen.
Sie hielt sich ein paar Zweige, die damit drohten, ihre Augen auszustechen, zur Seite und hastete weiter durch den knöcheltiefen Morast. Ihre vor Schmutz starrenden Stiefel verursachten bei jedem Schritt durch den Sumpf schmatzende Geräusche. Zwischendurch gab es glücklicherweise vereinzelte größere Steine, auf denen sie normalerweise lieber balancierte, als sich nasse Füße zu holen, doch mittlerweile kam es ihr eher auf Bequemlichkeit an – also lief sie einfach quer durch den Matsch, statt zu riskieren, auf den spiegelglatten Steinen auszurutschen.
Mühsam versuchte sie, nicht von dem nur schwer erkennbaren Pfad abzukommen.
Sie mahnte sich, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren: einfach auf dem Weg bleiben, nicht abkommen.
Das war das Wichtigste, nur darauf kam es jetzt an!
Sie atmete kurz tief durch und schaffte es tatsächlich für ein paar Minuten an nichts anderes zu denken, als an diese Mission. Einmal landete sie schmerzhaft auf dem Hintern und riss sich dabei die linke Hand auf. Blut floss aus einem langen Kratzer unterhalb ihres Handgelenkes. Doch Jani war nicht wehleidig. Sie wischte die Hand in einer nebensächlichen Bewegung an der ohnehin schon vor Dreck starrenden Trekkinghose ab und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.
Kein Grund, sich aufhalten zu lassen.
Das Leben des einzigen Menschen, der ihr wirklich etwas bedeutete, hing von ihr ab. Für ihn würde sie bis ans Ende der Welt durch Moore gehen, sollte es regnen und ihre Beine schmerzen, so sehr sie wollten. Ihr Wille war stärker.
Dicht vor ihr flog plötzlich ein schwarzer Vogel aus dem Gebüsch und flatterte mit lautem Gezeter davon. Janina blieb wie angewurzelt stehen. Mit klopfendem Herzen hielt sie einen kurzen Moment inne, um ihren rasenden Puls zu beruhigen und ärgerte sich eine Sekunde darüber, dass sie so schreckhaft war.
Nur eine blöde Amsel! beruhigte sie sich, wischte sich kurz mit dem Ärmel über das Gesicht und hastete wieder los.
Als der Pfad ein wenig breiter wurde und nicht mehr ihre gesamte Aufmerksamkeit erforderte, kehrten ihre vielen Sorgen mit einer Wucht zurück, die sie straucheln ließ.
Es war tatsächlich passiert. Das Unglück, von dem sie gedacht hatten, es ausschließen zu können, indem sie es einfach ignorierten, war eingetroffen. Sie war nun auf sich allein gestellt. Warum mussten sie auch so viel Pech auf einmal haben? Wie so oft in Janinas Leben hatte sich ein Unglück zum nächsten gesellt ... und dann, dann war auch noch das Pech dazu gekommen!
Wie weit ist es noch bis zur nächsten Straße, verdammt?
Die Straße, dass sie einmal sehnsüchtig nach einer Straße verlangen würde, sie, die den Lärm der stinkenden Autos verabscheute!
Aber nun galt es, so schnell wie möglich zur nächsten Ortschaft zu gelangen. Und an der Straße würde es ihr hoffentlich gelingen, eines der vorbeifahrenden Autos zu stoppen. Viel Verkehr gab es ja nicht gerade in dieser Gegend – mit ein Grund, warum sie überhaupt hierher gekommen waren, Hendrik und sie.
Sie warf einen nervösen Blick auf die Uhr: 21:16 Uhr. Ein weiterer Blick nach oben, in Richtung der wolkenverhangenen Sonne, beruhigte ihre flatternden Nerven. Kein Grund zur Sorge, es war trotz des Regens noch taghell. Das war ein großer Vorteil an norwegischen Sommern. Die Dunkelheit, die im Winter über Monate andauerte und nur von farbenfrohen Nordlichtern erhellt wurde, existierte im Sommer schlichtweg nicht.
Sie erinnerte sich daran, dass sie letzte Nacht etwa gegen 3:00 Uhr morgens so etwas wie eine Dämmerung erlebt hatten, bevor es wieder heller wurde. Eine magisches Ereignis.
Und hilfreich in ihrer aktuellen Lage, denn somit wusste sie, dass ihr noch genug Zeit blieb, um die Straße zu erreichen, und dort gesehen werden konnte – falls denn jemand um diese Uhrzeit auf der E6 nördlich von Trofors, einem kleinen Ort im Norden Norwegens, unterwegs sein sollte. Doch die Zeit drängte trotzdem. Denn jede Minute Verzögerung konnte das Ende für ihren Freund bedeuten.
Manche ihrer Kommilitonen und Bekannten, die von ihrer dreiwöchigen Tour zu Fuß durch den Nationalpark erfahren hatten, hatten ihre Bedenken geäußert.
„So weit ab vom Schuss? Was, wenn einem von euch etwas passiert?“ Aber Janina und Hendrik etwas auszureden, war absolut zwecklos gewesen. Sie waren sich ihrer Sache sicher und hatten beschlossen, ihren Plan durchzusetzen.
Doch nun haderte Janina mit dieser Entscheidung. Hatten die Freunde vielleicht doch recht gehabt? Hätten sie lieber eine andere, sicherere Route wählen sollen?
Janina schüttelte den Kopf, dass die Wassertropfen nur so flogen. Nein, diesem Gedanken wollte sie keine Chance geben! Hendrik und sie hatten alles richtig gemacht.
Der hochgewachsene Norweger, der sich allein mit seinem Kompass in den Fjorden besser zurechtfand, als mit Navi in jeder noch so gut beschilderten Stadt, hatte an alles gedacht. Ihre Reise war bis ins kleinste Detail geplant gewesen, sie hatten trainiert, waren vorab mit Gepäck weite Märsche gegangen und hatten sogar für den - unwahrscheinlichen - Fall, dass ihnen ein Bär begegnen sollte, Pfeffersprays mitgenommen. Wie stolz waren sie vor nun mehr neun Tagen gewesen, als sie nach ihrer ersten Tagesetappe im Zelt lagen und festgestellt hatten, dass sie außer dem Öko - Spülmittel, nichts vergessen hatten. Und wer brauchte schon Spülmittel, wenn man in glasklaren Bächen sein Geschirr mit ein wenig Sand wieder sauber machen konnte?
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