Knapp einen Kilometer von der Frauenkirche entfernt klettert Mads auf einen Kunstfelsen. Besonders am Felsen: Er ist fast in die Innenstadt integriert, steht an der Carl Blochs Gade in einem Park am Fluss Aarhus Å. Mit seinem nackten Oberkörper, den rasierten blonden Haaren und blauen Bermudas fällt der Jugendliche als Kraftpaket auf. Und er sieht professionell aus. Er trägt Kletterschuhe. Seine im Sand liegende Gummimatte schützt. Oft lässt er sich erschöpft darauf fallen. Der Felsen setzt sich aus unterschiedlichen geometrischen Formen wie Quadern, Rechtecken und Dreiecken zusammen. Auf die Flächen sind unterschiedlich geformte Vorsprünge montiert. Als er registriert, dass er fotografiert wird, kommt er neugierig. Heute sei er nicht in Form, seufzt er. Das Ziehen und Stemmen am Felsen falle ihm schwer.
Nur auf den ersten Blick reizvoll erscheint die im Zentrum liegende „Prachtstraße“ der Stadt – Åboulevarden: wegen des Wassers, der Brücken über den Fluss und des lebendigen Auf- und Abflanierens der Menschen. Dort liegt das überdimensionierte Kaufhaus „Magasin“, das der Altstadt die Luft zum Atmen raubt. Es überragt die historischen Häuser der Altstadt, schluckt so das Licht der Umgebung. Die Eintönigkeit der langen Front spiegelt sich im vorüber fließenden Fluss Aarhus Å. Aber von einer Radfahrerskulptur aus ist zu sehen, wie die Menschen am Flussufer den Sommer genießen. Es gibt dort einen Flair ausströmenden Platz mit Steinblöcken, auf denen sich junge Frauen unterhalten. Anstelle einer Mauer grenzen die Stadtplaner den Platz raffiniert mit Spurrillen vom Wasser ab, damit keiner hineinfällt. Am Flussufer reihen sich Restaurants und Cafés aneinander; deren Tische sind im Sommer immer gut besetzt bis tief in die Nacht. Doch die Preise sind so frech, dass sogar die Kellnerin davor warnt, 7,50 Euro für eine Tomate und fünf Kammmuscheln auszugeben.
Daher empfiehlt es sich, der „Fressmeile“ zu entfliehen und den Reiz des Flusses zu erkunden. Das wegen seines üblen Geruchs ehemals einbetonierte Gewässer wurde in der Innenstadt in den 1980-er Jahren für die Bürger geöffnet. Die Wasserqualität hatte sich erheblich verbessert. Der Verkehr lief früher auf beiden Seiten des Flusses. Um die Chancen eines Boulevards zu erhöhen, beschloss man, eine Seite des Flusses für den Autoverkehr zu sperren. Bis dahin kannten die meisten Einwohner den Fluss nur als Verbindung des Hinterlandes mit dem Hafen.
Über die Befreiung gelang es, sowohl das Stadtzentrum mit dem Hafen zu verbinden als auch mehr freies städtisches Leben zu ermöglichen. Entlang einer im Zuge dieser Maßnahme am Fluss gepflanzten Allee reihen sich seitdem mehrere treppenartig gebaute breite Stege aus Holz. Jugendliche nehmen sie gerne als Gelegenheit zum Schnacken an.
Stadtarchitekt Stephen David Willacy, der noch in den nächsten Jahren enorm damit beschäftigt sein wird, nach dem Flussgebiet im Zentrum auch das Hafengebiet für die Bürger aufzubrechen, meint: „Jetzt hat sich der Fluss zu einer großen Quelle der Unterhaltung mit Restaurants und schönen Plätzen zum Spazierengehen gewandelt. Die Promenade reicht jetzt bis zum Hafen. Dies war eine wichtige Entscheidung in der jüngeren Stadtgeschichte.“
Willacy ist Brite, um die 50 Jahre alt. Den Kontakt zu ihm vermittelt die PR-Frau Lotte Vind Sørensen vom städtischen Bauamt. Sie reagiert zeitnah auf Anfragen. Bei ihr wiehert nicht der Amtsschimmel. Die Stadtplaner kennen ihre Stadt, haben sie doch die dänische Art zu leben, mit einigen auch für jeden anderen Architekten leicht zu realisierenden Projekten gefördert. Willacy nimmt das Anliegen seines Gastes ernst, die Architektur der Stadt zu verstehen, versteht es aber dabei auch, humorvoll zu bleiben. Er kann wunderbar zwischen den Zeilen zu lesen, so dass sich ein qualitätsvolles Gespräch entwickelt. Für ihn stellt es kein Problem dar, die Entwicklung der Stadt in den vergangenen 40 Jahren unterhaltsam zu vermitteln.
In Aarhus' wichtigster Fußgängerzone, der Søndergade, fehlt jedoch jegliches Flair. Außer vor einem Irish Pub, der mit astronomischen Preisen aufwartet, findet man nicht eine Ruhezone. Erst am Ende der Gasse gibt es einen Park, in dem man sich ausruhen kann. Hier findet man Besucher des herausragenden Kunstmuseums ARoS und des Festspielhauses sowie Studenten der Musikschule – lauter ruhige und angenehme Nachbarn. Dort steht auch das so genannte Ridehus, ein schönes Backsteingebäude, dem man noch die historische Reiterkaserne ansieht. Dass es heute zum Konzert einlädt, zeigen Plakate. Wenn Konzerte stattfinden, breiten die Zuhörer ihre Decken auf dem Rasen aus und picknicken
Im gleichen Umkreis findet sich auch das moderne Kunstwerk des australischen Künstlers Benjamin Gilbert, der Naturformen entlehnt, nämlich die des Buckelwals als Grundform, und sie zu einem modernen Kampfhubschrauber verfremdet. Er nennt das Mischwesen „hval-i-kopter“. Was hat der Mittdreißiger beabsichtigt? Er wurde von Greenpeace inspiriert. Gilbert ist selbst aktives Mitglied. Er vertritt die Idee, Kunst müsse interaktiv sein, wenn sie etwas bewirken solle. Einfach ausgedrückt lautet sein Appell: Schafft den Walfang ab und schützt dessen Lebensraum! Ob das Studentenpärchen, das daneben auf dem Rasen picknickt, auch davon berührt wird? Auf einer Decke verteilen sie die Speisen. Eine Flasche Wein leisten sie sich auch. Wein ist nicht mehr so teuer wie der übrige Alkohol. Also wird etwas Besonderes gefeiert. Faszinierend ist der natürlich und melodiös vorgetragene Gesang aus dem Wal-Hubschrauber. Er ist rhythmisch wie textlich eindeutig dem Gesang einer Popsängerin nachempfunden. Die Sängerin: eine hübsche gut fünfjährige Afrikanerin. Die Kleine mit einer ungemein freundlichen Ausstrahlung kann das Lied nur von einem Musiksender kennen. Im Walkörper hallt es, was das Mädchen wohl entdeckt hat. Ihre mit einer Freundin auf einer Decke sitzende Mutter nimmt vom Gesang keine Notiz. Der ältere Bruder probiert sich derweil als Kraftmensch Krause aus, hämmert mit dem Fäusten auf den Hubschrauber ein. Auch andere Eltern mit Kindern steigen in den hval-i-kopter, stecken den Kopf aus dem Walmaul und rufen „Buh“.
Auf dem Platz am Musikhus vorbei spazierend, stößt man zwischen Büschen auf einen kleinen Platz mit einem Wasserspiel. Jugendliche haben diese Oase auch entdeckt. Denn hinter einem hohen Baum, unter dem das Wasser sprudelt, verbergen sie sich im Gebüsch wie in einem Schutzraum. Von den verborgenen Bänken aus können sie in den Park schauen, ohne selbst gesehen zu werden. Der Cannabis-Geruch liegt in der Luft. Fünf Jungs sitzen entspannt plaudernd auf einer Bank und rauchen Joints. Großzügig bietet einer von ihnen einen Joint an. Nichts bringt sie aus der Ruhe, nicht einmal, dass ihr neuer Gast sie fotografiert. Sie fotografieren ihn ebenfalls und lachen darüber belustigt wie ihr Gast. Sie sprechen über Schule, über Mädchen, hören Musik. Vor ihnen liegen Seiten aus Schulheften, die sie hinterher säuberlich einsammeln. Chefarchitekt Willacy sagt dazu, die Stadt habe bewusst über die Stadt verteilte Erholungsräume geschaffen. Selbst im Park der Sommerresidenz Marselisborg habe sie Grillplätze eingerichtet. Aber auch mitten im Zentrum liegen solche Zonen wie der Kletterfelsen. Andere Städte speisen Bürger mit Bänken ab.
Willacys Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung der Hafenregion. Mit Aarhus Ø entsteht dort ein völlig neuer Stadtteil an der Aarhusbucht. Dieser liegt in einer Länge von gut 1,5 Kilometer und bis zu 500 Meter Breite zwischen der Altstadt und der wie ein Eisberg gestalteten Wohnanlage „Isbjerget“. Das Architektenbüro Cebra erhielt dafür die Auszeichnung des Belgian Building Award 2014. Der „Eisberg“ ist seiner Höhe wegen aus allen Himmelsrichtungen weit sichtbar. „In Dänemark gibt es nur zwei Städte mit einer Bucht“, erzählt Willacy. „Køge und Aarhus“. Die Entstehung und Entwicklung von Aarhus beruhe auf der Lage an der Bucht, die schon von vornherein als Naturhafen benutzt worden sei. So sei Aarhus immer mehr zu einer Stadt des Im- und Exports geworden. Erst seit der Industrialisierung seien viele große Gebäude entstanden, die den Blick auf die Bucht und damit die zum Siedeln einladenden Naturgegebenheiten verstellt hätten.
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