Ihre Mutter war Thailänderin, auch wenn Sam behauptet hatte, sie sei Vietnamesin. Sie hatte gemeint, dass die meisten Leute den Unterschied sowieso nicht begriffen und es manchmal einfacher war, ihnen das zu erzählen, was sie ohnehin dachten. Da hatte sie vermutlich recht.
Ganz abgesehen davon, dass Sams Dad in Frankfurt am Main einen guten Teil des Rotlichtbezirkes kontrollierte und ihre thailändischen Großeltern in Bangkok das gleiche taten. Deshalb waren Sam und ihre Schwester auch auf irgend so ein schickes Internat in der Schweiz gegangen, wo solche Details nicht zählten, weil es bei anderen genauso war und die, bei denen es nicht so war, waren die Kinder irgendwelcher Politiker oder Prinzen und die legten naturgemäß ohnehin Wert auf Diskretion.
Sams Mum hatte ihr jedenfalls die Schlitzaugen und die grazilen Glieder vererbt. Sam hatte einfach Glück gehabt und das Beste aus den asiatischen und europäischen Genen ihrer Eltern mitgekriegt. Paula hatte aus irgendeinem Grund blaue Schlitzaugen und noch hellere Haare als Sam, dafür aber eine etwas dunklere Haut. Sam fand, dass das irgendwie behindert aussah, aber er war sich sicher, dass seine Tochter zu einer echten Schönheit heranwachsen würde. Er hasste es, wenn Sam über Paulas Aussehen herzog.
Na ja, er hatte sich schon viel zu lange nicht mehr um die beiden gekümmert. Obwohl Sam auch nicht besser war. Am Freitag hatte sie sich mal wieder von diesem Kulturfuzzi von der Linken Partei flachlegen lassen. Wie hieß der noch? Ulrich Kerber. So 'ne graue Ossi-Maus. Na ja, der fuhr halt total auf Sam ab. Wahrscheinlich war es für den ein besonderer Thrill, eine kleine, unterwürfige Fidschi-Frau ficken zu können, weil die Ossis ja die vietnamesischen Vertragsarbeiter in den neunziger Jahren noch zur Hölle hatten schicken wollen. Jonas hatte irgendwo mal Bilder von diesem brennenden Asylbewerberheim in Rostock oder Greifswald oder wo das gewesen war gesehen. Da war wirklich wieder der hässliche Deutsche bei den Leuten rausgekommen. Der hässliche Ossi genauer gesagt. Sah man ja jetzt auch, dass die alle die Deutsche Alternative wählten.
Waren nicht irgendwann demnächst sogar wieder Wahlen? Stimmt, er hatte auf Twitter etwas darüber gelesen, auch, dass dieser Kerber dabei eine gewisse Rolle spielte. Die Pöstchen hatten sie ja jetzt schon alle verteilt. Und das nannte man dann Demokratie. Diese Araberin von den Grünen sollte offenbar regierende Bürgermeisterin von Berlin werden. Jonas fand, dass diese Maryam Husseini irgendwie nicht so aussah, als würde sie Spaß verstehen.
Aus Assoziationen und losen Gedankensträngen formte sich in Jonas' Erbsenhirn eine Idee, die er für ganz schön clever hielt. Er freute sich jetzt richtig darauf, seine Frau in seine Arme zu schließen. Vielleicht würde er sogar ein bisschen mit Paula spielen. Allerdings war Bojana, die kleine Bulgarin, die sie als Putzfrau und Kindermädchen eingestellt hatten, so langsam dabei, Mutterinstinkte zu entwickeln. Wahrscheinlich würde sie ihn gar nicht an seine Tochter heranlassen. Egal. Sein Abend war jedenfalls gerettet. Hastig zog Jonas sich seine Sneaker über. Die Schnürsenkel stopfte er nur nachlässig unter die Lasche, damit er nicht beim Gehen darüber stolperte. Seine Mauken waren eh zu breit für die arschteuren Sneaker im Hiphop-Style, die nur so aussahen, als wären sie für echte Männerfüße gemacht, in Wirklichkeit aber an allen Ecken und Enden drückten.
Er sah, dass Luca in der Küche saß. Er hatte sich einen peinlichen babyrosa Bademantel übergezogen und hielt eine Zigarette in der Hand. Luca glotzte ihn aus funkelnden kajalumrandeten Augen an und blies den Rauch in kleinen Ringen aus. „Bye, Luke!“ rief Jonas ihm zu und winkte betont tuntig in Richtung Küche. Luca nickte nur. Beleidigt. Hatte er sich doch gedacht. Aber sollte er doch schmollen! Er, Jonas, hatte zu tun.
Sam: Berlin-Prenzlauer Berg, November 2019, Montag, ca. 17 Uhr
Gedankenverloren schob Sam den Buggy, in dem Paula saß und vor sich hindöste, hin- und her, ein kleines Stück nur, so als wollte sie ihre Tochter sanft in den Schlaf wiegen. In Wirklichkeit bestand wohl eher die Gefahr, dass sie sie damit aufweckte. Bloß nicht! Sam nahm die Hand hastig weg, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst.
Sie hoffte, dass der süße Kellner es nicht gesehen hatte. Wie alt er wohl sein mochte? Mitte-Ende zwanzig? Ein wenig jünger als sie? Sam nippte an ihrem Fenchel-Honig-Tee. Mann, war der heiß! Es dampfte ja noch richtig aus dem großen, klobigen Glas. Vielleicht hätte sie erst die kleine Orangenscheibe nehmen sollen. Sam überlegte, wie es wirken würde, wenn sie die kunstvoll am Rand des Glases drapierte Orangenscheibe mit einer lässigen Bewegung in die rechte Hand nehmen und genießerisch hineinbeißen würde. Mit der linken Hand würde sie sich ihre langen, dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht streichen. Das musste alles sitzen. Bis ins Detail. Es musste wie zufällig aussehen, ein bisschen verpeilt und doch sehr sinnlich. Ob es den schnuckeligen Kellner dazu bringen würde, noch einmal zu ihr an den Tisch zu kommen? Obwohl ihr Teeglas doch noch ganz voll war …
Sam verwarf den Gedanken. Der Orangensaft würde ihr an den Fingern kleben. Und sie musste arbeiten. Sie warf dem Laptop, der aufgeklappt vor ihr auf dem Tisch stand, einen missmutigen Blick zu. Sie musste jede Menge Tweets in die Tasten hauen, die die Wut einer kleinen, zierlichen Halbvietnamesin auf die kartoffeldeutsche Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck brachten. Sam versuchte, sich mental darauf vorzubereiten. Der antisemitische Anschlag in Halle, die Schmierereien, die Uli vor ein paar Tagen an seinem Haus gehabt hatte, der Mord an Chooey - das alles sprach eine eindeutige Sprache. Der Rechtsruck in der Gesellschaft schien unaufhaltsam zu sein. Aber sie würde sich ihm entgegenstemmen. Sie würde kämpfen wie eine Löwin. Es durfte nicht verzweifelt wirken. Sie musste stark und selbstbewusst auftreten.
Chooeys Leiche war heute Morgen in Kreuzberg entdeckt worden, in der Nähe des „Uncle Gertud“, mitten im Partykiez. Chooey war transgender und stammt aus Südkorea. Darauf musste Sam abheben.
Ina wollte, dass sie alle zusammen hielten. Sie selbst sah sich als Leitwölfin, als Vorbild - eine starke queere Frau, die sich von der Mehrheitsgesellschaft und ihren Zwängen nicht unterkriegen ließ. Sie hatte die „dicke Zicke“ gegründet – zunächst nur als Online-Magazin, seit einem Jahr aber dank der Unterstützung diverser linker und frauenfreundlicher Stiftungen aber auch als vierteljährlich erscheinendes Hochglanz-Mag, das für 10 Euro in ausgewählten Buchhandlungen und am Bahnhof zu haben war.
Zu dem, was an dem Mord an Chooey antifeministisch, homophob und transphob war, würde Ina einen längeren Essay schreiben. Chooey selbst war es eigentlich immer eher um das In-Between gegangen. Er hatte gewollt, dass die Leute sich auf die Uneindeutigkeit einließen, dass sie begriffen, dass er sich nicht in eine bestimmte Schublade stecken ließ. Chooey war an der Universität der Künste für freie Kunst eingeschrieben gewesen. In Wirklichkeit hatte er allerdings in erster Linie das Kreuzberger Partyleben studiert. Seine Performances, die er gelegentlich in queeren Kneipen abgehalten hatte, würden unvergesslich bleiben. Früher oder später würde allerdings herauskommen, dass er drogensüchtig gewesen war und auch selbst mit Drogen gedealt hatte. Aber na ja, von irgendwas hatte er halt leben müssen. Und wer war schon perfekt?
Sam knabberte nervös am Nagel ihres Daumens. Sie hatte noch keine einzige Zeile geschrieben. Genau genommen hatte sie sich noch nicht einmal bei Twitter eingeloggt. Paula schlief immer noch friedlich in ihrem Buggy. Sam hatte ihr was ins Fläschchen gemischt, damit sie ..., na ja, sie war eben ein sehr lebhaftes Kind. Sie wollte nicht, dass sie sie nervte, während sie arbeiten musste. Sam sah auf die Uhr. Schon Viertel nach fünf. Bojana, das Kindermädchen, hätte eigentlich schon längst da sein müssen.
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