Er hatte Sam bei einer Release-Party in Friedrichshain kennengelernt, bei der das Erscheinen irgendeines hippen Romans aus der Feder eines der angesagten Stars der hiesigen queeren Szene gefeiert worden war. Dass sie gegen Ende des Abends E-Mail-Adressen miteinander ausgetauscht hatten, mochte vielleicht nicht ganz unbemerkt geblieben sein, dass sie sich in der Folge privat getroffen hatten und sehr schnell miteinander im Bett gelandet waren, war jedoch ihr kleines Geheimnis. Er hatte Sam klargemacht, dass er verheiratet war – glücklich! Darauf hatte er bestanden. Und es hatte ganz gut gepasst, dass auch sie Mann und Kind hatte, eine kleine Tochter.
Anders als man bei einer so flippigen jungen Frau vielleicht hätte erwarten können, war sie in familiären Angelegenheiten durchaus altmodisch. Sie genoss ihre Mutterschaft sehr, wie sie ihm in einem intimen Moment einmal gestanden hatte. Ihre Tochter Paula ging ihr über alles und sie liebte ihren Mann Jonas, der im E-Business tätig und daher quasi rund um die Uhr beschäftigt war. Vielleicht lag es daran. Vielleicht hatte sie die Affaire mit ihm, der gut zehn Jahre älter war, aus reiner Langeweile angefangen.
Nachdenklich betrachtete Uli den nackten Körper der hübschen Eurasierin. Er saß auf der Bettkante und wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Gehen? Ins Bad? In die Küche? In den Wohn- und Arbeitsraum? Seinen Laptop aufklappen und ihr sagen, dass er noch zu tun hatte? Oder sich neben ihr im Bett ausstrecken? Fast glaubte er, die seidige glatte Haut ihrer schlanken, durchtrainierten Beine unter seinen Händen zu spüren. Hanna dagegen hatte Beine wie ein Reh – so behaart. So würde Sam es ausdrücken. Uli unterdrückte ein Grinsen.
„Jetzt, wo du gekommen bist, fehlen dir die Worte?“ Sam sah ihn aus schmalen Augen an. „Ich bin einfach noch total überwältigt!“ versuchte Uli sich zu rechtfertigen. Sam's Gesichtszüge verhärteten sich. Bitte krieg jetzt keinen deiner Anfälle, flehte er stumm. „Sam, ich bin einfach total müde. Das ist es. Ich bin sowas von total ausgepowert. Dieser ganze Politzirkus macht mich vollkommen fertig. Der Sex mit dir war wunderschön, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass mir jeden Moment die Augen zufallen. Ist vielleicht auch so langsam das Alter, das sich bemerkbar macht. Ich bin ja schon jenseits der Vierzig. Es tut mir leid, aber ein andermal, jetzt ...“
Zu seiner Überraschung sah sie wieder milder gestimmt aus. „... Und jetzt willst du, dass ich gehe, damit der tolle Ulrich Kerber von der Linken Partei seinen Schönheitsschlaf kriegt?“ Sie grinste belustigt. „Na ja, ich bringe dich natürlich noch bis zur Prenzlauer Allee, wie immer.“ Innerlich atmete er erleichtert auf. „Quatsch! Du hast echt nicht zugehört. Ich bin mit dem Auto da. Ich bin doch nicht blöd und lass das bis morgen hier stehen, damit auch jeder sehen kann, dass der Ulrich Kerber von der Linken Partei Damenbesuch hatte. Oder dachtest du, ich wäre so lebensuntüchtig, dass ich nicht mal alleine nach Hause komme?“ Danke, danke, danke, Sam! „Nö, na ja, wenn du darauf bestehst“ sagte er lahm.
Sam nickte eifrig. Dann machte sie eine Show daraus, sich wieder anzuziehen, eine Art umgekehrten Strip. Sie schleuderte ihre Unterwäsche umher - ein Push-up Bra und ein hauchdünner String Slip, die beide zusammen mindestens so viel gekostet hatten, wie das, was einem Hartz-IV-Empfänger im Monat für Lebensmittel zur Verfügung stand -, und zog sich mit tänzelnden Bewegungen ihr Designerkleid über. Dann schlüpfte sie geschmeidig in ihre Sneaker, für die sie vermutlich auch zwei- oder dreihundert Euro auf die Ladentheke gelegt hatte, und warf sich ihre Lederjacke über, die in etwa so aussah, wie die Kunstlederblousons, die viele Teenager in Marzahn-Hellersdorf trugen, nur dass bei Sams Jacke das Leder echt war. Im Endergebnis sah sie aus wie eine stinknormale Berliner Göre, nur dass sie deutlich hübscher war und eben auch etwas älter, als die meisten Leute zunächst annahmen.
Er mochte diese unprätentiöse Seite an ihr. Aber er verachtete sie dafür, dass sie das Geld so dekadent zum Fenster hinausschmiss. Na ja, sie war die Tochter eines einfachen Arbeiters und einer vietnamesischen Putzfrau, die mit den Boat People als Flüchtling in die Bundesrepublik gekommen war. Vermutlich hatte Sam Nachholbedarf. Er zog sich hastig seine Hose über und begleitete sie zur Tür. „Ciao, Uli!“ Zum Abschied hauchte sie ihm noch ein Küsschen entgegen. „Ciao! Komm gut nach Hause!“ Sam grinste von einem Ohr zum anderen und sprang dann die frisch geputzte Treppe mit federnden, elastischen Schritten fast geräuschlos hinunter. Als er hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, ging er zurück in die Wohnung. Irgendwo im Kühlschrank musste noch Schnaps sein. Uli hatte das Gefühl, dass er jetzt einen brauchen konnte.
Berlin-Kreuzberg, November 2019, Montag, ca. 8 Uhr
Das Wochenende verlief wie jedes Wochenende in dem hippen Berliner Partykiez. Erst am Montag fand man in den frühen Morgenstunden in der Nähe des angesagten Club „Uncle Gertrud“ zwischen Zigarettenkippen, halb ausgetrunkenen Bierflaschen und Kotze eine Leiche. Es war einer dieser hippen jungen Partymenschen - maximal Ende zwanzig, eine dunkle Röhrenjeans, die hauteng an den schmalen, fast ausgezehrt wirkenden Schenkeln anlag, weiße, vom Dreck der Straße etwas angeschmuddelte Basketballstiefel, eine dunkle Bomberjacke, wie Skinheads sie in den achtziger und neunziger Jahren getragen hatten, ein lila Halstuch und die Haare rabenschwarz und kurz - jemand, wie es aussah, den trotz des szenigen Stylings niemand groß zu vermissen schien.
Jonas: Berlin-Kreuzberg, November 2019, Montag, ca. 16 Uhr
Jonas spürte, wie Luca ihm über den Rücken strich. Es war nur ein leichter Hauch. Aber er hatte richtig Gänsehaut davon bekommen. Das hatte er etwas ärgerlich bemerkt, auch das leichte Blubbern, das von seinem Bauch in Richtung Genitalien kroch. Jonas wusste, dass er sich nicht umdrehen durfte. Er musste einfach so liegenbleiben, platt wie eine Flunder, die sich vor nahenden Feinden in den Sand auf dem Meeresboden einbuddelte, bis nur noch die Augen herausguckten.
Luca war dazu übergegangen, ihm den Nacken zu massieren. Das war gut, das turnte ihn nicht so an. Er merkte jetzt, dass ihm eigentlich kalt war. Wahrscheinlich kam die Gänsehaut daher. Es war wirklich eine dumme Idee gewesen, sich so, mit nacktem Oberkörper auf Tiffys Bett hinzuhauen. Er hatte seine Jeans anbehalten und die schmutzigen Tennissocken. Er hätte wenigstens die Tür zu Tiffys Zimmer zuziehen sollen. Obwohl er wusste, dass auch das Luca nicht abgehalten hätte. Luca gab nicht viel auf die Privatsphäre anderer Menschen.
Im Grunde waren ihm andere Menschen sowieso scheißegal, was sie dachten und fühlten, ob sie sich ärgerten oder sich freuten – Luca kümmerte sich nicht darum. Hauptsache, er hatte einen Effekt auf sie. Das war es: Luca wollte wissen, ob und wie er auf andere Menschen wirkte. Und er war, das musste man zugeben – einfach eine Wucht! Luca sah aus wie ein Engel oder eine Gestalt aus einem italienischen Renaissancegemälde. Er war 1,80 Meter groß, schlank und androgyn, aber zu muskulös, als dass er mädchenhaft oder gar anorektisch gewirkt hätte, dickes, naturblondes Haar, das er halblang trug – eine Strähne fiel ihm immer ins Gesicht, graublaue Augen, dichte dunkle Wimpern, feingeschnittene Gesichtszüge …
Jonas musste sich irgendwie runterbringen. Komm schon! Autosuggestion ist alles! sagte er sich. Er starrte angestrengt auf das verwaschene Kissen mit dem aufgedruckten Rennauto. Tiffys Bettwäsche sah aus, als hätte sie jemand als Sonderposten in irgendeinem Supermarkt für einen vierzehnjährigen Teenager gekauft. Dabei hatte Tiffy sonst so viel Stilgefühl! Na ja, Tiffy war so ziemlich die modebesessenste Transe, die Jonas kannte. Obwohl Tiffy nur damit spielte. Er besaß hunderte von Outfits, von Muttis guter Junge über geschniegelter junger Geschäftsmann und durchgeknallter Techno-Freak im Nineties-Retro-Look bis hin zu „Rate mal, ob ich Männlein oder Weiblein bin!“ und ultrafeminine Tucke, die sich mit deiner großen Schwester um das perlmuttrosa Lipgloss prügelt, wobei deine große Schwester dabei allerdings auf jeden Fall den Kürzeren zieht.
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