Es war schon komisch, dass Gregor Matzke von der Deutschen Alternative in Liebenau ausgerechnet der Mann der Cousine seiner Mitbewohnerin Tonka war. Allerdings konnte Tonka natürlich nichts für die Fehlentscheidungen ihrer Cousine. Sie selbst war halbe Palästinenserin, auch wenn sie ihren Vater nie kennengelernt hatte.
Angeblich hatte die Deutsche Alternative nichts mit dem Fackelmarsch in Liebenau zu tun. Gleich heute Vormittag hatte die Berliner Fraktion ein Pressekommuniqué dazu herausgegeben. Hinzu kam, dass Gregor Matzke, der sich in den Medien zu den Bombendrohungen geäußert hatte, gar nicht daran teilgenommen hatte. Einige seiner Parteikameraden offenbar schon, aber das sei eine rein private Entscheidung gewesen, sie hätten spontan ihrem Unmut über Angela Merkels Einwanderungspolitik Ausdruck verleihen wollen, die Stimmung sei eben ein bisschen angeheizt gewesen.
Angemeldet hatte die angebliche Demonstration ein gewisser Miroslav Schüssler, der in Schwerin wohnte, aber in Liebenau ein Grundstück besaß, das er verpachtet hatte. Schüssler war in den nuller Jahren eine Weile Mitglied der Schweriner CDU gewesen, dann aber ausgetreten, um sich, wie er gesagt hatte, ganz der nachhaltigen Landwirtschaft zu widmen, für die er in seiner Partei damals seinem Empfinden nach zu wenig Rückhalt gehabt hatte. Danach war er politisch nicht wieder in Erscheinung getreten. Was den Fackelmarsch in Liebenau anging, so habe der sich lediglich gegen Terrorismus - egal von welcher Seite - und gegen eine falsch verstandene Toleranz richten sollen, behauptete Schüssler. Er habe sich mit einer russlanddeutschen Bekannten, die in der Plattenbausiedlung im Waldeck-Carrée quasi Tür an Tür mit den Flüchtlingen, die man dort einquartiert hatte, lebte, abgesprochen. Sie hätten beide Wert darauf gelegt, sich von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus klar zu distanzieren. Immerhin sei seine Bekannte selbst Ausländerin. Eine gewisse Alla Krötzer hatte Schüsslers Aussagen bestätigt.
Uli hatte mit Basti noch kurz abgesprochen, wie sie weiter vorgehen wollten. „Wir verurteilen diese Bombendrohungen, aber wir wenden uns auch dagegen, islamistischen Terrorismus auf alle Muslims und Muslimas zu projizieren. Wir stehen jetzt mehr denn je für ein friedliches Miteinander ein“ hatte er gesagt. Basti, dem es unter anderem oblag, Ulis Accounts in den sozialen Netzwerken zu betreuen, hatte unter dem Profil seines Chefs getwittert: „Ein Glück, dass nicht viel passiert ist! Hoffe auf gute Ermittlungsarbeit! Lassen wir uns von dem Terror einiger weniger nicht einschüchtern! Kein Fußbreit Rassismus und Islamhass!“. Natürlich hatten die Kommentare nicht auf sich warten lassen.
Die türkeistämmige Soziologin Alev Aktay, die regelmäßig anspruchsvolle Kolumnen für das queerfeministische Online-Magazin „Die dicke Zicke“ schrieb, hatte einen englischen Text darüber geteilt, wie nach islamistischen Anschlägen aufflammender Islamhass und Rassismus gegen Einwanderer mit muslimischem Hintergrund deren Abkapselung und Radikalisierung begünstigten. Basti hatte Alevs Tweet geliked und retweetet. Dann hatte er sich ausgeloggt.
Später hatte er eine kurze E-Mail von Uli in seinem elektronischen Postfach gehabt. „Gut gemacht, Basti! Weiter so! Übrigens – wenn du heute Abend noch nichts vor hast: In Kreuzberg ist ein Event, für das ich eigentlich fest zugesagt hatte, eine Performance von Queenie McKay, einer jungen amerikanischen Performance-Künstlerin, davor eine queere Fashion Show. Leider pack ich's zeitlich nicht. Wenn du an meiner Stelle hingehen könntest, wäre das super! Wenn nicht, reiß ich dir auch nicht den Kopf ab. Im Anhang nähere Infos. Mail mir bitte kurz, ob du das machen könntest. LG, Uli“. Basti hatte zugesagt und nun stand er ein bisschen da wie bestellt und nicht abgeholt.
Kurz entschlossen nahm er sich selbst auch ein Bier und latschte dann wieder zu der kleinen Schwarzen rüber, die mit ihren Freunden um diese dämliche Plastikwanne herumsaß. Er hielt der Frau die Bierflasche unter die Nase. „Äh, hier, dein Bier!“ murmelte er verlegen. Sie glotzte ihn an als sei er ein Außerirdischer. „Ach so, ja. Was zum Aufmachen hast du nicht?“ Neben ihr saß jetzt ein Typ mit Baseball-Cap und Vollbart. Der Rotblonde, der Design für Hartz-IV-Empfänger machen wollte, war nicht mehr da. „Oh, kein Problem, Georgie, ich mach's dir mit meinem Feuerzeug auf“ sagte der Bärtige mit dem Baseball-Cap. Die kleine Schwarze nickte Basti mit blasierter Miene zu. Er konnte gehen. Ein 'Danke' konnte sie sich offenbar nicht abringen. Na gut. Er wollte die Stimmung nicht versauen.
Auf der Suche nach einem Flaschenöffner irrte er ein paar Minuten ziellos durch den Raum. Dann sah er, dass einer an einer Kordel neben der Tür hing. Prima. Basti lehnte sich gegen die Wand und hoffte, dass es lässig aussah. Er beschloss, sich für heute mit der Rolle des aufmerksamen Beobachters zu begnügen.
Uli: in seinem Berliner Stadtappartement, Lichtenberg, November 2019, Freitag, ca. 23 Uhr
Sams schmaler bleicher Körper lag wie hingegossen auf dem weißen Laken. Sie hatte verdammt noch mal die prallsten kleinen Arschbacken, die er je gesehen hatte und die prallsten kleinen Brüste, die er je mit seinen Händen umfasst hatte. Sie hatte den Körper einer Siebzehnjährigen, nur dass sie schon … wie alt war sie nochmal? Anfang dreißig, wenn er das richtig in Erinnerung hatte. Aber Asiatinnen, überhaupt Women of Color, alterten ja nicht so schnell wie Europäerinnen, deren Haut am lichtempfindlichsten war. Deshalb bekamen sie am schnellsten Falten. Das hatte sie ihm mal erklärt.
Uli keuchte. Er wusste, dass das, was er gerade tat, Blödsinn war. Aber er hatte es heute unbedingt gebraucht. Er konnte im Moment nicht anders, als blöd zu sein. Blöd blöd blöd. Sam stöhnte lustvoll. Er wusste, dass sie das aus irgendeinem Porno hatte. Sam und ihr Mann Jonas guckten oft zusammen Pornos, die sie aus dem Internet herunterluden. Sam fand überhaupt nichts dabei. Und sie war Feministin. Sie war der Meinung, dass das zu einer selbstbestimmten weiblichen Sexualität dazu gehörte. Sie hatte recht. Was war denn schon so schlimm daran?! Wenn es der Frau doch auch Spaß machte?!
Uli merkte, wie ihm der Schweiß von der Stirn tropfte. In ihm hatte sich eine derartige Ladung angestaut – der ganze Stress der letzten Wochen. Sie hatten ihm wirklich von allen Seiten zugesetzt. Er war so vollgepumpt mit Adrenalin, dass er kurz davor war, durchzudrehen. Er hoffte, dass er nicht zu grob zu Sam war, aber sie schien es genau so zu wollen. Ganz abgesehen davon, dass er darauf jetzt auch keine Rücksicht mehr nehmen konnte. Mit ihm gingen gerade die Pferde durch und irgendwie genoss er es. Er hatte die Zügel vollkommen aus der Hand gegeben.
Als er fertig war, stieß er Sam etwas unsanft von sich. Er bereute es sofort wieder. Etwas in ihm wollte die Erinnerung daran, wie er sich gerade hatte gehen lassen, am liebsten sofort aus seinem Gedächtnis tilgen, noch bevor sie sich da überhaupt erst festsetzen konnte. Aber das war schließlich nicht ihre Schuld. „Ich habe noch nie soviel gefühlt wie gerade eben!“ log er. Er hatte einen ordentlichen Orgasmus gehabt, aber das war es auch schon gewesen. Sam schien die Unehrlichkeit aus seinen Worten herausgehört zu haben. Sie drehte sich auf den Rücken und sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an, den er nicht richtig deuten konnte. Dann küsste sie ihn zärtlich auf die Stirn. Also war offenbar doch alles in Ordnung.
Eigentlich wäre es ihm ganz recht, wenn sie jetzt aufstehen und gehen würde. Uli wusste, dass das 30-Quadratmeter-Appartement, das er sich mit einem Genossen teilte, der nur gelegentlich in Berlin war, der pure Luxus war. Im Normalfall übernachtete Uli in Lichtenberg, wenn es auf irgendeiner Parteisitzung spät geworden war oder er es aus anderen Gründen nicht schaffte, zurück nach Liebenau zu fahren. In letzter Zeit hatten die „anderen Gründe“ überwogen, wie er sich eingestehen musste.
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