Sam wusste, dass Uli gelogen hatte, als er Ina ein Interview gegeben hatte und behauptet hatte, er fände es ganz toll, dass seine Frau Hanna sich die Beine nicht rasierte. Das sei so natürlich, er sei für Body Positivity, Frauen sollten sich in ihrem Körper wohlfühlen, so wie er nun einmal war. Das fände er als Mann ganz besonders sexy. Hatte er etwa gedacht, sie, Sam, sei als Halbasiatin von Natur aus so zerbrechlich-dünn? Na ja, vielleicht. Sam wusste ja, dass rassistische Vorurteile tief saßen. Womöglich nahm er auch an, dass Asiatinnen keine Körperbehaarung hatten. Und dass ihr Kopfhaar ihr so seidenweich und glatt über den Rücken floss, ohne dass sie nachhelfen musste. Dass sie mit feinen dünnen Linien als Augenbrauen geboren war. Dass sie nie Ringe unter den Augen hatte, selbst wenn sie nur drei Stunden Schlaf gekriegt hatte. Dass ihre Haut ganz von selbst immer so makellos rein war.
Sam brauchte morgens drei Stunden im Bad, um richtig Sam zu sein, so wie sie sie alle kannten und liebten – Uli eingeschlossen. Nicht zu vergessen ihre Ausflüge zum Klo nach dem Essen, die Abführmittel, das Fitnesstraining in jeder freien Minute.
Sam fror, obwohl es im Café viel zu warm war. Sie dachte an Uli, an seine Küsse, bei denen er sich immer etwas trottelig angestellt hatte, wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal ein Mädchen küsst, etwas sabbernd, aber das hatte sie ihn natürlich nicht spüren lassen. Hanna hatte es vermutlich nie etwas ausgemacht. Aber Hanna war dumm. Also, nicht dumm, was Bücher anging, sie hatte offenbar Germanistik und Slawistik studiert, in Dresden, wo Uli und sie sich in einer linken Hochschulgruppe kennengelernt hatten. Aber sie war dumm, wenn's um Männer ging. Sie dachte, dass sie sie tatsächlich so mögen würden, wie sie war. Sie forderte nichts von ihnen, auch, weil sie unterbewusst wohl spürte, dass eine wie sie nicht viel fordern konnte.
Bei ihr, Sam, wurde Uli handzahm. Sein Blick, der eines kühlen, rationalen Denkers, der sich bei hitzigen Debatten so schnell nicht aus dem Konzept bringen ließ, wurde bei ihr zu dem eines bettelnden Hundes: gierig und notgeil, aber auch ängstlich und bittend, weil sie ihn immer erst einmal abwehrte. Das war kein Ritual, wie er wahrscheinlich annahm. In ihrem flachen, im Fitnessstudio durchtrainierten Bauch wuchs ein Wust an negativen Gefühlen heran, der größer und größer wurde, ein ekelhaftes, bösartiges Geschwulst, das alles wegfraß, was an Lebendigkeit in ihr drin war.
Sam fragte sich, ob es Formen von Krebs gab, die einen innerhalb von 24 Stunden umbrachten. Wenn ja, dann hätte sie gerne einen solchen Krebs, dachte sie pathetisch, ohne es ernst zu meinen. In Wirklichkeit war es vermutlich das Baby, das vielleicht ja sogar von Uli war. Oder doch von Jonas. Spaß gemacht hatte es ihr nie. Das heißt, es hatte ihr schon Spaß gemacht, nicht „es“ selbst, aber die Verführung, die Macht, die sie über Männer hatte, wenn sie sie angelockt und in ein Netz aus erotischen Gefälligkeiten verwoben hatte, sodass sie nicht mehr heraus konnten und sich ihr schließlich irgendwann hilflos zappelnd ergaben. Zuerst las sie ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Sie ließ sie die Machos sein. Egal, was sie behaupteten, wie sehr sie auch vorgaben, für Gleichberechtigung zu sein und den Feminismus zu unterstützen, in der Hinsicht waren sie alle gleich, da hatte Ina wirklich recht.
Im Netz war Uli der Frauenversteher. Aber was wusste er schon? Wenn man seine Tweets las, konnte man ihn tatsächlich für eine Schwuchtel halten. Da hatten diese rechten Kotzbrocken nicht ganz Unrecht. Auch wenn sie ihm in ihren Kommentaren nachbrüllten, dass er bei jeder Frau, die ein Flüchtling vergewaltigt hatte, in gewisser Weise mitvergewaltigt hatte. Sam biss sich auf die Lippen. Im Grunde war doch jeder Mann ein Vergewaltiger. Oder etwa nicht?! Sam sah das alles eigentlich ganz genau wie Ina.
Sie schaute kurz, welche Wirkung ihre Tweets erzielt hatten. Unter dem letzten hatten sich bereits 128 Kommentare angesammelt. Es fing gleich an mit: „Geh dahin zurück, wo du herkommst!“ - Das war der Klassiker. Dann hieß es: „Da wäre wohl eine Anzeige wegen Volksverhetzung fällig.“ Ein anderer rechter Hater hatte darauf geantwortet: „Nimm lieber Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Das Schlitzauge macht doch jetzt gemeinsame Sache mit dem IS. Der große Austausch geht der wohl nicht schnell genug!“, „Ach, ich wusste gar nicht dass diese Islamisten jetzt auf Transgender stehen.“, „Also, ich hab nix gegen Transen, bloß gegen Moslems.“, „Ich find beides total entartet!“, „An den Galgen mit denen!“.
Auch einige Pseudolinke waren ihr leider in den Rücken gefallen: „Was hat Chooeys Tod - Rest in Peace! - mit islamistischen Attentaten zu tun?“, „Sam, diesmal bist du zu weit gegangen!“ Ach, und ihr geht nie zu weit? „Sam, hast du schon mal überlegt, was Chooey von dem halten würde, was du hier zusammentwitterst?“ Er fände es gut, schon allein, weil die Mehrheitsgesellschaft es scheiße findet. „Ich finde deinen Tweet total kontraproduktiv, tut mir leid. Bislang weiß niemand, wer diesen Transgender-Künstler aus Korea ermordet hat + tut mir leid, jetzt mit dem IS zu kommen, macht ihn* auch nicht wieder lebendig!“ Tut mir leid, tut mir leid! Du tust mir auch leid!
Frauke Petersen, eine Kollegin von Alev von der Humboldt-Universität, hatte getwittert: „Sorry, hat jemand hier die Drukos gelesen? Sam wehrt sich mit ihrem Tweet gegen so etwas. Als Unterschichts- UND Flüchtlingskind überlegt sie nun einmal nicht vor jedem Wort! Eure Solidarität bitte!“ Danke, Frauke. Die Drunter-Kommentare der Rechten waren doch wirklich noch viel schlimmer als alles, was sie getwittert hatte. Warum maßen jetzt selbst die Linken so sehr mit zweierlei Maß? Na ja, es waren Alman Linke, Deutsche, die sich ihrer Privilegien nicht so bewusst waren und sich nicht die Mühe machten, mal über den Tellerrand zu schauen. Dann konnten sie sich ihre ganzen schönen Worte von wegen, dass sie angeblich so sehr gegen Rassismus waren und Multikulti so toll fanden, aber auch sparen. Es gab Sam einen Stich, dass Alev nichts Ermutigendes zu ihrem Tweet getwittert hatte, aber vermutlich hatte sie zu tun. Sam klickte kurz zu Alevs Twitter-Account rüber. Tatsache, sie war schon seit Freitag nicht mehr eingeloggt gewesen oder hatte zumindest nichts getwittert.
Sam sah, wie die Tür aufging und Bojana schnaufend auf sie zugelaufen kam. Paula pennte friedlich in ihrem Buggy. Der schnuckelige Kellner war nicht mehr da. Ein kleiner Dicker mit Glatze und einem peinlichen Goldkettchen, dass, selbst wenn es ironisch gemeint war, stupide wirkte, hatte seinen Dienst übernommen. Wie schade! Sam hatte einen Entschluss gefasst. Wenn kein Schwein sich für den Tod von Chooey interessierte, dann würde sie das eben selbst in die Hand nehmen. Sie übergab Paula samt Buggy an Bojana, klappte ihren Laptop zusammen und zahlte.
Sam: Berlin-Charlottenburg, Universität der Künste, Foyer, November 2019, Dienstag, ca. 11 Uhr
Jonas war gestern total gut drauf gewesen. Er hatte was zum Essen bei einem veganen Lieferservice bestellt und hatte dann ein richtiges Candle-Light-Dinner nur für sie zwei gezaubert. Sie war richtig baff gewesen. Trotzdem war es anstrengend gewesen, die ganze Zeit gute Laune schauspielern zu müssen.
Nach dem Essen war sie noch mal kurz online gewesen. Irgendein Arsch von den Identitären hatte sie offenbar bei Twitter gemeldet und sie war gesperrt worden. Zwar hatten jede Menge Transgender und ein paar fitte Frauen - Feministinnen, die den Namen auch wirklich verdienten - sie in Schutz genommen und alle, die sie kritisiert hatten, in Grund und Boden getwittert, so gesehen hatte sie ihr Ziel erreicht, der Mord an Chooey war nun wirklich in aller Munde, zumindest was die Linken und die queere Szene anging, sogar Uli's Account hatte sich gegen die Sperre einer „engagierten linken Woman of Color“ gewandt, wenn auch nur gegen die Sperre, dazu, ihren Tweet zu verteidigen, hatte sich Uli's neuer Mitarbeiter nämlich nicht durchringen können, aber Chooey war mausetot, sie selbst war mundtot gemacht worden, sie fühlte sich schlapp und irgendwie fett - sie hatte bestimmt in den letzten Tagen ein oder zwei Kilo zugenommen, auch, weil sie mit dem Essen nicht so diszipliniert gewesen war - Uli wollte sie nur noch ficken, ohne ihr als Mensch Zuwendung zu geben oder ihr für ihr politisches Engagement, als Feministin, den Rücken zu stärken, Paula hing mittlerweile mehr an Bojana als an ihr und überhaupt war alles scheiße!
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