Blassrot wie Erdbeersorbet – Franz:
In der Kunsthandlung Kettelheim waren ein paar neue Gesichter aufgetaucht. Max, der Schriftsteller, hatte gerade seinen ersten Roman veröffentlicht und ein paar wohlwollende Kritiken dafür eingeheimst. Zu der Zeit hatte er an einem Gedichtband gearbeitet, aus dem er ab und zu in der Kunsthandlung Kettelheim vorgetragen hatte.
Zu einer dieser Lesungen, bei der ein Schauspieler, den Max gekannt hatte, kleine Sketche aufgeführt hatte, hatte sich ein junger Mann verirrt, der fast schon zu gut ausgesehen hatte, um wahr zu sein, wie Meta insgeheim für sich feststellt hatte: Er hatte freundlich dreinblickende blaue Augen gehabt, goldblonde, etwas zu lange Haare, um die ihn sicherlich so gut wie jede Frau beneidet hatte, das Gesicht eines Abenteurers und eine sportliche Statur, wie sie normalerweise nur Männer haben, die sich den ganzen Tag draußen an der frischen Luft bewegen.
Als er ihnen in einem breiten Bayerisch eröffnet hatte, dass er als Assistent für Mathematik an der Friedrich-Wilhelms-Universität arbeitete, hatten sie zunächst alle gedacht, es handele sich um einen Scherz. Doch Franz, wie der schöne Mathematiker hieß, hatte einen Ausgleich zu der Welt der Zahlen und der reinen, abstrakten Logik gebraucht: „Sonst verkümmert man ja ganz! Die Mathematik ist meine Passion, aber von Zeit zu Zeit muss man auch einmal schauen, was davon abgesehen in der Welt noch so vor sich geht!“ hatte er gesagt.
Türkisblau und Lila mit ein paar Sprengseln Gold: Fritzi, Hermann und der „Zwetschgenbaum“:
Franz hatte Jazzmusik geliebt. Eines Abends hatte er Meta überredet, mit ihm auszugehen. Sie war etwas irritiert gewesen, denn er hatte sogleich hinzugefügt: „Nein, nein, liebe Meta, keine Angst, es handelt sich nicht um ein unmoralisches Angebot. Ich sehe nur, dass Sie betrübt sind. Wer wäre das nicht, jetzt, wo ein Brot eine Millionen Mark kostet und nicht absehbar ist, wie es nächste Woche sein wird. Doch ich habe ein Zahlungsmittel, das besser ist als Papiergeld. Und Sie werden sehen – Jazz ist fetzig! Das lässt alle Sorgen für den Moment vergessen! Im 'Zwetschgenbaum' spielt eine junge Boogie-Woogie-Pianistin, die Sie unbedingt kennenlernen müssen, Meta!“
Um das Geld für die Tram zu sparen, waren Meta und der schöne Franz auf Fahrrädern in den Wedding, eines der Berliner Arbeiterviertel, gefahren. Dort hatte sich der „Zwetschgenbaum“ befunden, eine etwas zwielichtige Kneipe mit entsprechender Kundschaft, in die Meta sich allein nicht hineingewagt hätte. Es war Frühsommer gewesen und die Luft war lau und mild gewesen. Im Wedding waren die Straßen menschenleer gewesen, bis auf ein paar junge Männer, die in kleinen Grüppchen herumgelungert hatten und hier und da Betrunkene, die aus einer der vielen Eckkneipen herausgetorkelt gekommen waren und anscheinend Mühe gehabt hatten, den Weg nach Hause zu finden.
Auch der „Zwetschgenbaum“ hatte von außen den Eindruck erweckt, dass hier vor allem Arbeiter nach Schichtende ihren Wochenlohn versoffen. Franz hatte allerdings behauptet, dass auch ein paar hartgesottene Berliner Ganoven zu den Stammgästen gehörten. Meta hatte sich gefragt, was er in dem Weidenkorb, den er auf den Gepäckträger seines Fahrrades geklemmt hatte, wohl transportiert hatte. Erst als sie beim „Zwetschgenbaum“ angekommen waren, hatte Franz es ihr verraten: „Eier und Zigaretten. Haben wir ein Glück gehabt, dass niemand unterwegs Interesse daran hatte! Aber sie haben vermutlich gedacht, dass nur Geldscheine darin sind, mit denen wir unser Bier bezahlen wollen und es daher die Mühe nicht lohnt, uns zu überfallen.“ Franz hatte erzählt, dass er einem jungen Physikstudenten, aus dem seine Eltern unbedingt einen zweiten Albert Einstein machen wollten, Nachhilfe in Mathematik gegeben hatte. Wie der Zufall es wollte, war der Herr Papa einer gewesen, der den Handel mit Eiern im großen Stil betrieben hatte und Franz hatte die Zahlung in Naturalien nur zu gern angenommen.
„Bei mir gibt es seit Wochen nur Spiegelei und Omelett! Es kommt mir fast schon zu den Ohren heraus, doch Eier sollen ja sehr nahrhaft sein. Ein paar werden Sie vielleicht auch haben wollen ...“ Zwei Eier hatten den Transport nicht überstanden. Franz hatte Meta einen kleinen Karton, der ein bisschen rohes Eigelb abbekommen hatte, überreicht. „Sie sind noch ganz frisch!“ hatte er erklärt. „Ich habe meinem jungen Studenten erst gestern die Geheimnisse der Grenzwertberechnung noch einmal nahe gebracht. Warum versuchen Sie es nicht auch mit Nachhilfe? Gibt es ein Fach, das Sie aus der Schule noch in guter Erinnerung haben? Glauben Sie mir, im Moment ist das vielleicht der beste Weg, um über die Runden zu kommen!“ Meta hatte überlegt. Sie sprach ganz gut Französisch. Nur dass zu der Zeit viele Leute am liebsten die Straßenseite gewechselt hatten, wenn ihnen ein Franzose entgegengekommen war. Meta hatte lachen müssen … „Aber lernen tut man es in der Schule doch noch immer!“ hatte Franz eingewandt. „Nicht, dass ich die Unbarmherzigkeit der Franzosen für gut halten würde, aber das wahre Übel war der Krieg, den man nicht vom Zaun hätte brechen dürfen! Helfen Sie lieber, dass die Menschen sich zukünftig im Vorfeld miteinander verständigen können, Meta! Das wäre doch eine edle Sache! Und nun lassen Sie uns hineingehen!“
Als Franz die schwere Holztür des „Zwetschgenbaums“ geöffnet hatte, die so ausgesehen hatte, als sei sie bereits mehrfach mit Tritten traktiert worden und einen neuen Anstrich gut hätte gebrauchen können, war es Meta so vorgekommen, als würden sie eine neue Welt betreten. All die Menschen, die sich auf der Straße nicht hatten blicken lassen, schienen hier versammelt zu sein. Ein dicker Mann mit schütterem Haar hatte in ein Saxophon geblasen. Plötzlich war der Raum nur noch Musik gewesen. Schillernde, leicht metallisch klingende Töne hatten die rauchige Luft durchschnitten wie obszöne Fanfarenstöße eines neuen Zeitalters. Hinter dem Mann hatte an einem schäbigen Piano eine junge Frau mit halblangen dunklen Haaren gesessen. Sie hatte sich einen Ruck gegeben und aus dem Stegreif angefangen, auf das Instrument einzuhämmern. Abgehackte, seltsam rhythmische Melodien waren erklungen, die auf ihre Art unerhört sinnlich gewirkt hatten. Unwillkürlich hatte Meta begonnen, sich in den Hüften zu wiegen. „Lassen Sie uns ein Bier holen!“ hatte Franz geflüstert. Meta hatte genickt.
Als sie sich zu einer Gruppe Männer gesetzt hatten, von denen einige mit den Knöcheln im Takt der Musik auf den Tisch geklopft hatten, war die Dunkelhaarige gerade dabei gewesen, das Kneipenklavier zu malträtieren wie ein Cowboy, der einen unwilligen Stier mit einem Lasso einfängt. Sie hatte fast wütend in die Tasten gehauen, einmal vor und zurück und dann plötzlich ganz zart und leise weiter gespielt. Eine tiefe, volltönende Männerstimme hatte zu singen begonnen. Die Stimme war eine deutsche gewesen, ein wenig schnarrend, der Berliner Dialekt war unverkennbar durchgeklungen. Der Sänger aber war schwarz gewesen.
Meta war noch nie zuvor einem Schwarzen begegnet, der Deutsch sprach. In Paris hatte sie einige Schwarze gesehen, auch Araber und Asiaten. Sie stammten aus den französischen Kolonien, aus Afrika oder Indochina. Der Sänger musste allerdings in Berlin aufgewachsen sein oder woher sonst hatte er den Zungenschlag so gut beherrscht?
Später am Abend hatte Franz den Schwarzen und die Klavierspielerin begrüßt, als seien sie alte Freunde von ihm. Er hatte ihnen einen Karton mit Eiern und zwei Packungen Zigaretten überreicht. Der Schwarze hatte breit gelächelt. Seine Zähne waren blitzweiß gewesen. Er hieß Hermann und war aus Kamerun, wie Franz Meta auf dem Nachhauseweg erzählt hatte.
Die Klavierspielerin, die noch recht jung gewesen war, höchstens knapp über zwanzig, und gegen Ende des Abends verschwitzt und erschöpft ausgesehen hatte, hieß Fritzi und war aus Rixdorf bei Berlin. Fritzi und Hermann waren damals ein Paar gewesen. Nachdem der letzte Gast gegangen war, hatte Franz die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und eher unbeholfen einen einfachen Walzer auf dem Kneipenpiano gespielt. Hermann und Fritzi hatten ihm dankbar zugelächelt. Verliebt und eng umschlungen hatten sie zwischen den Tischen getanzt.
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