„Jawoll!“ antworteten Zsolnay und Behrend wie aus einem Munde. Der dicke Zuhälter hatte sich erhoben. Er warf einen beinahe zärtlichen Blick auf den blauen Edelstein, der in seinem Schmuckkästchen vor sich hinfunkelte.
„Den Saphir bring ich bei Gelegenheit dann selbst vorbei, damit alles seine Ordnung hat. Ihr Jungs werdet von meinem Freund weitere Instruktionen erhalten, denn wir haben noch so einiges mit euch vor. Zuerst geht es um die rote Zwillingsschwester, von der Fräulein Sibylla euch erzählt hat. Die hat sich mittlerweile hochgeschlafen in gewisse Kreise – Künstler nennen die sich, ein paar Judenlümmel, die den Bürgerschreck geben und malen wie Geisteskranke, dieser ganze französische Dreck, ein paar Farbkleckse und jede Menge Beleidigungen gegen die Obrigkeit, mit denen sie die deutsche Kultur und deutsche Werte zersetzen wollen. Einige von denen haben aber durchaus Geld und Beziehungen ...“
Mit einer blitzschnellen Bewegung, die Zsolnay dem Zuhälter mit seinem massigen Körper gar nicht zugetraut hätte, klappte der Dicke das Schmuckkästchen zu und steckte es sich in die Hosentasche. Es war so schnell verschwunden, dass der einarmige Zsolnay unwillkürlich an einen Taschenspielertrick denken musste.
Der Raum wurde jetzt nur noch von dem funzligen Licht der Öllampe erhellt. Der junge Mann mit den pechschwarzen Haaren war vom Tisch zurückgetreten. Die Dunkelheit hatte ihn fast vollständig verschluckt. Die anderen, die am Tisch saßen, waren zu schattigen Umrissen geworden.
„Männer!“ verabschiedete sich der Dicke knapp. „Voran!“ brüllten die anderen zurück. Fräulein Sibylla hatte sich ein Pelzjäckchen übergeworfen und folgte dem Dicken mit trippelnden Schritten. Die Tür, durch die auch Zsolnay und Behrend gekommen waren, schlug mit einem Krachen hinter den beiden zu. In gebührendem Abstand - Fräulein Sibylla und der Dicke mussten längst auf der Straße sein -, erhoben sich die anderen von ihren Stühlen. Zsolnay und Behrend taten es ihnen gleich. Die Runde war aufgelöst.
Metas Leben, Herbst & Winter 1920
Dunkelrot, Mintgrün und Indigoblau – Konrad (II):
Obwohl er fest zugesagt hatte, zu kommen, war Konrad an dem Abend, an dem ein paar Architekten in der Kunsthandlung Kettelheim eine Lesung veranstaltet hatten, nicht erschienen. Meta hatte gehofft, ihn dort wiederzusehen. Enttäuscht, wie sie gewesen war, hatte sie den Abend einfach so an sich vorbeiziehen lassen. Das amüsierte Gelächter der anderen und ihre interessierten Nachfragen waren ihr erschienen wie eine Kulisse in einem Theaterstück, der man nicht viel Beachtung schenkte, weil sie nicht zu dem passte, was wirklich von Bedeutung war.
Dann hatte Meta Rosen vor ihrer Haustür gefunden. Das heißt, die erste, die in einem aufgesprungenen Emaillebecher gesteckt hatte, hatte Frau Raditsch, die Hausmeisterin, gefunden und sie Lucie übergeben. „Aber Frau Raditsch! Herbert und ich sind verheiratet!“ hatte Lucie ihr keck entgegnet. Der Hausmeisterin war es sichtlich unangenehm gewesen. „Vielleicht das Fräulein, das bei Ihnen zur Untermiete wohnt …?“
Lucie hatte den aufgesprungenen Emaillebecher mit der Rose auf den Küchentisch gestellt und sich dann nicht weiter darum gekümmert. Meta hatte die Rose angestarrt, wann immer sie allein in der Küche gewesen war. Sie hatte stumm davor gesessen, als könne sie ihr irgendeine Antwort entlocken auf eine Frage, von der sie selbst nicht so genau wusste, wie sie lautete. Sie hatte zugesehen, wie die Rose, deren zarte, dunkelrote Blätter anfangs noch so frisch gewesen waren, nach und nach verwelkt war. Der süßliche, verführerische Duft der Rose war davon nur umso intensiver geworden.
In der darauf folgenden Woche hatten zwei stolze Rosen an langen, dornigen Stängeln an der Haustür gelehnt. Jemand hatte sie unten mit einem schlichten Stofftaschentuch umwickelt. Diesmal war es Meta selbst gewesen, die die Rosen entdeckt hatte, als sie vom Einkaufen nach Hause gekommen war und sie hatte sie gleich mit in die Wohnung genommen, ohne sich zu fragen, ob sie überhaupt ihr galten oder doch jemand anderem. Meta hatte in der Küche gesessen und gewartet, wie die Blätter der Rosen, die sie in den Emaillebecher gesteckt hatte, langsam schlaffer wurden, sie hatte ihren süßen Duft eingesogen und sich heimlich ihren Phantasien hingegeben.
Eines Tages hatte sie Konrad dann zufällig bei einem ihrer Spaziergänge getroffen. Sie war im Scheunenviertel unterwegs gewesen Die Gegend östlich des Hackeschen Marktes war eher übel beleumdet gewesen und so war sie überrascht gewesen, ihn dort zu sehen. Im Scheunenviertel hatten zu der Zeit viele osteuropäische Juden gelebt und Meta hatte es geliebt, sich an einem Straßenstand Bejgln, mit Zuckerguss überzogene Hefekringel, zu kaufen. Sie hatte Konrad einen aus der Tüte, die sie gerade erstanden hatte, angeboten.
Dann hatte es plötzlich angefangen zu regnen. Sie waren in ein Café gegangen. Während ihre nassen Mäntel an der Garderobe getrocknet waren, hatten Konrad und Meta sich bei heißem Kaffee mit einer großzügigen Portion Schlagsahne aufgewärmt. Von draußen war der Regen unablässig an die Fensterscheiben geprasselt. Konrad hatte ohne Scheu drauflos geplaudert.
Er war auf einem brandenburgischen Jagdschlösschen bei einem griesgrämigen alten Onkel aufgewachsen, hatte er erzählt. Seine Eltern waren gestorben, als sie Verwandte in Amerika besucht hatten. Ihr Schiff war auf der Rückreise gesunken, sodass ihm nur vage Erinnerungen an sie geblieben waren. Er war damals noch ein kleiner Junge gewesen, den man für die Zeit der Reise in Deutschland bei besagtem Onkel untergebracht hatte, wo er dann auch den Rest seiner Kindheit verbracht hatte.
Ohne innezuhalten hatte Konrad dann das Thema gewechselt und von Kunstausstellungen und Theateraufführungen berichtet. Die Architektenlesung in der Kunsthandlung Kettelheim hatte er mit keinem Wort erwähnt.
Ein paar Tage später hatten sie sich noch einmal getroffen und die Ausstellung einer avantgardistischen Kunstzeitschrift, die schon vor dem Krieg einen gewissen Namen gehabt hatte, besucht. Im Nachhinein erinnerte Meta sich nicht mehr, ob es nach der Ausstellung gewesen war, als sie zum ersten Mal bei ihm übernachtet hatte oder erst später. Hatte sie sich wirklich so schnell auf ihn eingelassen?
Nein, es musste an dem Tag gewesen sein, als sie gemeinsam einen Spaziergang im Grunewald unternommen hatten. Die Dunkelheit war früh hereingebrochen und sie hatten an einer Straßenecke im gutbürgerlichen Charlottenburg heiße Maronen gekauft. Konrads Wohnung hatte in einer ruhigen Seitenstraße gelegen. Sie war ungewöhnlich groß für einen Junggesellen gewesen, mit hohen, stuckverzierten Decken. An den Wänden hatten schmucklose Buchregale gestanden, in denen sich Kunstbände, aber auch schöngeistige Literatur, Klassiker der Philosophie und Bücher über Indien und den Fernen Osten aneinandergereiht hatten. Konrads Schreibtisch war unter mehreren chaotischen Blätterhaufen fast verschwunden. Das Sofa, das ihm auch als Bett diente, war seltsam flach gewesen und mit einer grob gewebten, orientalischen Tagesdecke bedeckt.
Konrad hatte eins der riesigen Kissen, die darauf lagen, genommen und es Meta zugeworfen. „Sitzkissen, Meta. Im Orient sitzt man darauf, sogar in Teehäusern. Stühle gibt es so gut wie gar nicht. Ich koche dir gern einen indischen Gewürztee, wenn du willst. Es ist leider das einzige, was ich kochen kann!“ Sie hatten den Tee getrunken, der ungewöhnlich scharf geschmeckt hatte, ein wenig nach Nelken. Meta hatte gespürt, wie ihr ganz warm davon geworden war.
Konrad hatte erzählt, dass sein Vater Archäologe gewesen war. Er hatte an Grabungen in Ägypten, Palästina und Persien teilgenommen. Schon zu Lebzeiten hatte Konrad ihn daher nur selten zu Gesicht bekommen. Jedes Mal, wenn sein Vater in Deutschland gewesen war, hatte er die Familie mit seinen Geschichten aus den fernen Ländern, in denen er gewesen war, unterhalten. Für Konrad, für den dies seine prägendsten Kindheitserinnerungen gewesen waren, hatte er vor allem darin fortgelebt. Er selbst hatte Kunstgeschichte und Archäologie studiert und auch einige Vorlesungen in antiker und fernöstlicher Philosophie besucht.
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