Durch irgendein Missverständnis erhielt Henny die Nachricht, dass ihr Liebster gefallen sei. Jette, die schon damals nach Berlin wollte und wohl auch ein wenig gefürchtet hatte, ihre Schwester würde das Singen vielleicht aufgeben, wenn sie erst einmal verheiratet wäre, überredete sie, mit ihr in die Hauptstadt zu ziehen, auch, um auf neue Gedanken zu kommen und so die ärgste Trauer zu bewältigen.
Währenddessen kehrte Hennys Verlobter, der zu dem Zeitpunkt noch höchst lebendig war, nach Weimar zurück. Man muss ihm mitgeteilt haben, Henny habe die Verlobung gelöst und sich anderen Männern zugewendet oder aber er hat sich selbst etwas Derartiges zusammengereimt. Jedenfalls machte er sich erst gar nicht mehr die Mühe, nachzuforschen, wohin es Henny verschlagen hatte, sondern erschoss sich noch am Abend seiner Heimkehr.
Natürlich war Henny schockiert, als sie Wochen später davon hörte. Jette, die wohl selbst gewisse Zugeständnisse gemacht hatte, um Engagements für ihre Schwester und sich an Land zu ziehen, war höchst betrübt. Sie machte sich Vorwürfe, ihre Schwester in etwas hineingezogen zu haben, das ihr selbst mehr und mehr über den Kopf wuchs.
Just in dem Moment erwies sich, was ich der Fairness halber hinzufügen muss: Manchmal schafft es sogar Sibylla, über ihren Schatten zu springen und sich von einer ungeahnt liebenswürdigen Seite zu zeigen. Sie hatte von der prekären Lage der Krüger-Schwestern gehört und ließ, da sie mittlerweile selbst in Berlin lebte, ihre Kontakte spielen, um Henny und Jette den Einstieg in der fremden Stadt zu erleichtern. So lernte auch ich die beiden kennen. Ich bemühte mich, sie aus Sibyllas Dunstkreis wegzulotsen, da ich wusste, dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte. Ich glaube, es ist mir auch ganz gut gelungen. Jedenfalls standen Henny und Jette bald auf eigenen Füßen.“
Meta hatte Konrad die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Er hatte ihr auch gesagt, dass er eine Weile mit Henny Krüger zusammen gewesen war bevor er sie kennengelernt hatte. Sie hatte nur genickt, als hätte sie sich das schon gedacht. An dem Abend hatten sie nicht miteinander geschlafen. Konrad hatte sich wie ausgelaugt gefühlt und Meta hatte nicht gewollt. Seither hatte er sie nicht wieder gesehen.
Dafür war Sibylla gekommen. Dabei war sie erst neulich da gewesen. So oft beehrte sie ihn sonst nicht. Und jetzt lag sie auf seinem Sofa, ohne sich etwas dabei zu denken, und tat unschuldig wie ein Kind. Spielerisch stieß sie eines der großen Kissen zu ihm hinunter. Es landete mit einem dumpfen, schweren Klatschen vor Konrad auf dem Boden. Sibylla ließ ihren nackten Fuß in der Luft kreisen. Er war etwas mollig und hatte einen schönen, hochgewölbten Spann.
„Komm ins Bett, Konni! Mir ist kalt!“ zwitscherte sie. 'Dann nimm dir doch die Wolldecke! Zieh dich wieder an!' wollte Konrad sagen, aber er tat es nicht. Er brachte nicht mehr als ein tonloses „Nein“ heraus. Sie waren übereinander hergefallen und hatten einander hungrig geküsst, doch dann hatte Konrad unvermittelt von ihr abgelassen. „Ich kann jetzt nicht, Sibylla“ hatte er gesagt. „Mir ist nicht danach. Jette Krüger ist ermordet worden ...“
Sibylla hatte betroffen ausgesehen. „Wie furchtbar!“ Er hatte sich davor gescheut, Sibylla seine intimeren Gefühle mitzuteilen, weil er wusste, wie sie war. Sie würde es ausnutzen und einen Weg finden, ihn damit enger an sich zu ketten, allein um Macht über ihn zu gewinnen und das wollte er nicht.
So gesehen war Konrad fast erleichtert, als Sibylla unvermutet das Thema wechselte. „Die kleine Künstlerin, mit der du seit ein paar Wochen schläfst, die mit den fuchsroten Haaren ...“ fing sie an. „Sie hat keine roten Haare!“ fiel Konrad ihr ins Wort. „Im Licht der Sonne haben sie aber rötlich geleuchtet. Ich habe es genau gesehen. Sie hatte sie unter einer einer großen Ballonmütze versteckt. Wie ein Junge hat sie ausgesehen, deine kleine Künstlerin …“ „Sibylla!“ Konrad war jetzt ernstlich genervt, doch Sibylla ließ sich nicht abbringen.
„Ich sag's dir ja nur, Konni, weil ich dir einen guten Rat geben will. Sie hat so verhuscht ausgesehen. Sie hatte die Schultern hochgezogen, als hätte sie etwas zu verbergen, aber ein paar Haarsträhnen sind unter ihrer Mütze hervorgerutscht. Die Wintersonne war so intensiv an dem Tag! Das Licht, Konni, bringt die Wahrheit hervor! Sei lieber vorsichtig mit ihr! Sie zieht das Unglück an! In deinen verliebten Augen mag sie unschuldig und rein aussehen, aber auf Außenstehende wirkt sie manchmal, als sei sie nicht ganz von dieser Welt. Sie hat eine gewisse Vergangenheit. Sie wurde unter keinem guten Stern geboren. Das spürt man. Ich will dich ja nur warnen ...“
„Metas Haare sind hellbraun. Du hast dir das bloß eingebildet oder aber es war eine andere. Außerdem haben wir alle eine gewisse Vergangenheit“ sagte Konrad matt. Ihm widerstrebte es, vor Sibylla zuzugeben, dass er, was Meta betraf, zunächst selbst einer gewissen Verwirrung anheim gefallen war. Nachdem er sie auf einer Soirée in der Kunsthandlung Kettelheim gesehen hatte, war er zu einer Wahrsagerin gegangen und hatte sich aus der Hand lesen lassen. Er erinnerte sich noch an den Nachmittag. Der Zigeunerjunge, der neben dem Zelt der Wahrsagerin herumgelungert hatte, hatte ihm diese kitschige bunte Glasperlenkette aufgeschwatzt. Ihm war nichts Besseres eingefallen, als sie Meta zu schenken. Hatte sie sie eigentlich noch? Dass sie sie nie trug, wunderte ihn keineswegs. Es war ja wirklich billiger Tand.
„Deine Lebenslinie ist stark!“ hatte die alte Wahrsagerin gesagt. „Auch wenn deine Hände ansonsten so glatt sind wie die eines Kindes!“ Natürlich, er hatte ja bislang in seinem Leben nie härtere Arbeit geleistet, als einen Füllfederhalter oder ein Buch in der Hand zu halten. „Nur dass sie in der Mitte plötzlich abbricht. Das heißt, nein, sie ist noch zu sehen, nur sehr dünn!“
Die Alte hatte ein zahnloses Lächeln gelächelt. Ihre trüben Augen hatten ihn unverwandt angesehen. „Dich verlässt der Mut, sobald das Leben dich auf die Probe stellt. Dabei bist du stark genug, um es mit den Herausforderungen, denen du begegnen wirst, aufzunehmen!“ Sie hatte seine Hände getätschelt. „Satan wird dich in Versuchung führen! Der Nebel der Täuschung wird dich in die Irre leiten, doch wenn du meinen Rat befolgst, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, dann wirst du auf den rechten Weg zurückfinden! Beschau dir nur genau, mit wem du es zu tun hast! Im Guten ist ein Stück weit auch das Böse enthalten, doch Satan versteht es, sich als Engel unter die Menschen zu mischen. So ist das Leben! Mache es dir also nicht allzu leicht, mein Sohn! Weiche Schwierigkeiten nicht aus, sondern gehe ihnen ganz im Gegenteil geradewegs entgegen!“
Konrad hatte nicht so recht gewusst, was er mit Rat der alten Zigeunerin anfangen sollte. Natürlich hatte sie ihm keine weibliche Begleitung für den Abend prophezeit. Er hatte eigentlich gar nicht geplant gehabt, mit Meta auszugehen und war sich auch danach nicht sicher gewesen, ob er sie wiedersehen wollte oder nicht. Er hatte mit ihr gespielt, wie mit so vielen Frauen und er wusste nicht, ob er sich mehr in das Spiel, in dem sie ihm eine so wunderbare Gefährtin war, verliebt hatte oder in die Frau.
Aber jetzt versuchte Sibylla Meta als eine Art Hexe darzustellen, vor der er sich in Acht nehmen sollte. Es war offensichtlich, dass sie eifersüchtig war und in Erfahrung bringen wollte, wie ernst es ihm mit Meta war. Wenn jemand eine diabolische Seite an sich hatte, dann Sibylla. Allerdings verbarg sie sie nicht. Sie war die Sündhaftigkeit in Person.
Ihre Anschuldigungen Meta gegenüber waren jedoch vollkommen haltlos. Da war er sich sicher. Es stimmte zwar, dass die Künstlerin etwas naiv und versponnen wirkte, wenn man sie nicht näher kannte, doch ihm war schnell klar geworden, dass sie durchaus sehr eigenwillig sein konnte. Ansonsten hätte er wohl auch schnell das Interesse an ihr verloren.
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