Der andere, der mit dem Rücken zur Hotellobby saß, schüttelte den Kopf. Er hatte dunkle, glänzende Haare, die er zu einem exakten Seitenscheitel frisiert trug. Ein Kellner in Hotellivrée kam an den beiden vorbei. Er hatte ein Tablett mit leeren Sektgläsern in der Hand und schien den einarmigen Mann mit den kurzgeschorenen Haaren, der ein hellbraunes Hemd und Drillichhosen trug, und den Dunkelhaarigen in dem grauen Soldatenmantel zu ignorieren. Dann besann er sich offenbar und nickte den beiden Männern diskret zu. Dabei zog er fragend eine Augenbraue hoch, aber nein, die Männer hatten im Moment keine weiteren Wünsche.
„Der Dicke war nicht immer so dick!“ sagte der Dunkelhaarige. „Ist ein paar Jahre her, wie du selbst weißt. Patriot ist er sein Leben lang gewesen, sagt er. Aus einfachen Verhältnissen, da hat man nicht immer die Wahl. Als ob du da was sagen könntest! Auf's Geld machen versteht er sich und den Zaster will er jetzt anlegen, für's Vaterland, weil für den halt das Ideelle was zählt, Deutschland erretten vor dem roten Dreckspack, das hier alles ruinieren will, wieder zu nationaler Größe zurückfinden … Kannst ja zu 'nem Judenluden gehen, wenn dir dessen verlauste Schmuddelweiber lieber sind ...“ Der Kurzgeschorene machte mit der Rechten eine unbeholfene Geste, die beschwichtigend wirken sollte. „Ih wo! So habe ich das nicht gemeint!“
Unbemerkt hatte der Kellner sich den beiden wieder genähert. „Meine Herren ...“ flüsterte er. „Ich störe ungern, aber mir wurde mitgeteilt, dass man Sie im Separée erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen würden ...“ Sie standen wortlos auf, während der Kellner mit kerzengeradem Rücken und einer Miene, die nicht verriet, was er dachte, voranging.
Auf der anderen Seite der Bar kicherte eine dralle, stark geschminkte Blondine, die Zigarette mit Spitze rauchte, bei so ziemlich jedem Wort, das ein etwas hölzern wirkender Herr mit grauem Haarkranz von sich gab. Im Hintergrund klimperte jemand auf einem Klavier herum. Der Einarmige konnte den Blick kaum von dem sehr großzügigen Dekolleté der Frau lösen. Erst als er schon fast an ihr vorbei war, sah er durch den Zigarettenqualm, dass sie bereits Falten um Augen und Mundwinkel hatte, trotz ihres pausbackigen Gesichts und der zentimeterdick aufgetragenen Schminke.
Der Kellner führte sie durch eine Tür mit der Aufschrift „Personal“ ins Treppenhaus und dann durch mehrere Flure und weitere Türen, bis sie vor einer „Suite“ standen. Dort öffnete er ihnen mit einer angedeuteten Verbeugung und verabschiedete sich mit einem knappen Nicken.
Die Augen der beiden Männer brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt hatten. Auf einem Tisch stand eine Öllampe, deren Schein ein grobschlächtiges Männergesicht mit kleinen Knopfaugen wie einen Heiligenschein umstrahlte. Das musste der dicke Zuhälter sein. Sein schmieriges Haar, das von unbestimmbarer Farbe war, war zu einer wuchtigen Tolle über der Stirn gekämmt. Er hatte die beiden Männer bislang noch keines Blickes gewürdigt. Seine breiten Hände betatschten etwas, das auf dem Tisch lag. Neiderfüllt sah der Einarmige, dass der Dicke an fast jedem seiner Wurstfinger Ringe mit klotzigen Edelsteinen trug. Die Klunker funkelten provozierend grell im Licht der Öllampe. Allein bei dem Anblick taten ihm die Augen weh, sodass er sich bemühte, seinen Blick auf etwas anderes zu lenken. Hinter dem Dicken hing ein Leopardenfell an der Wand. Bislang hatte der Einarmige über solche exotischen Raubkatzen nur in Abenteuerromanen gelesen. Als Junge hatte er so etwas verschlungen, obwohl er eigentlich nicht gern las. Er fragte sich, wer den Leoparden wohl geschossen hatte. Der Dicke doch wohl nicht.
„Wenn die Herren sich vielleicht setzen wollen?“ krächzte ein älterer Mann mit Monokel. Er vermied es, dabei aufzublicken, als legte er Wert darauf, dem Einarmigen und dem Dunkelhaarigen nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als sie seiner Meinung nach verdient hatten. Nicht sehr viel also. Erleichtert sah der Einarmige, dass am Tisch auch ein stämmiger Mann mittleren Alters in Offiziersuniform saß. Zackig stand er stramm, so wie er es im Deutschen Heer gelernt hatte. Sein dunkelhaariger Freund tat es ihm gleich.
„Jawoll!“ erscholl es aus beider Kehlen. „Melde gehorsamst: Obergefreiter Georg Zsolnay! Freikorps von Hasenbeck!“ teilte der Einarmige mit soldatischer Knappheit mit. Die Worte schossen ihm aus dem Mund wie Gewehrsalven. „Fähnrich Richard Behrend! Ebenfalls Freikorps von Hasenbeck!“ stellte der Dunkelhaarige sich im gleichen Tonfall vor. Sie nahmen sich Stühle, die an der Wand standen und setzten sich zu den anderen, eher am Rand, da sie instinktiv spürten, dass sie nicht zum inneren Zirkel gehörten.
„Bodo von Hasenbeck. Tapferer Mann … Zu blöd, dass die Roten ihn abgemurkst haben!“ murmelte der Offizier. Seine rechte Wange war von einem grob vernarbten Schmiss entstellt, der es so aussehen ließ, als sei sein Mund ständig zu einem höhnischen Grinsen verzogen. „Jawoll!“ antwortete Richard Behrend, der Dunkelhaarige halblaut.
„Die Roten kennen weder Anstand noch Moral! Vor ein Kriegsgericht müsste man jeden einzelnen dieser Novemberverbrecher stellen, zuallererst Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Matthias Erzberger, diese finstere Trias des Vaterlandsverrates!“ Aus der Runde ertönte zustimmendes Gemurmel.
„Allerdings erfordert jede Schlacht eine wohlüberlegte Strategie ...“ Der mit dem Monokel räusperte sich. „Nachdem der letzte Versuch, die Verhältnisse, die Sozialdemokraten und Juden durch ihren Verrat am deutschen Volke herbeierpresst haben, noch einmal zum Besseren zu wenden, gescheitert ist, erscheint es angemessen, den Kampf zunächst - vorübergehend! - weniger offensiv, auf einer anderen Ebene, mit der vornehmen Zurückhaltung interessierter Kreise im Hintergrund, weiterzuführen.“
Der mit dem Monokel sah sich um, wie um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen. Wahrscheinlich war er Professor oder Schuldirektor, dachte Zsolnay, der Einarmige. Jedenfalls ein Gelehrter, der viele Bücher las, vielleicht auch selbst welche schrieb und es gewohnt war, dass man ihm aufmerksam zu hörte.
Der Dicke schnippte plötzlich mit den Fingern. Alle wandten ihm ihre Gesichter zu. Im Halbdunkel sah Zsolnay einen jungen Mann mit scharfen Gesichtszügen, der ihm bisher nicht aufgefallen war. Er hatte ein edles Profil mit Adlernase. Sein dunkles Haar trug er halblang. Soldat konnte er also nicht sein. Halb verdeckt hinter dem Langhaarigen saß eine Frau in einem grünen Ballkleid. Die Frau stand auf. Sie hatte ein rundliches Gesicht, das ein wenig bäuerlich wirkte. Ihr braunes Haar war zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt. Smaragdgrüne Edelsteine schmückten die Haarspangen, die darin steckten.
Die Frau schmiegte sich an den Dicken, umarmte seine wuchtigen Schultern kurz und hauchte ihm dann einen frivolen Kuss auf die Wange. Jede ihrer Bewegungen wirkte kalkuliert. Zsolnay bemühte sich, sie nicht zu sehr anzustarren. Mit einer theatralen Geste wandte die Frau sich den Männern zu und spitzte ihren kirschrot geschminkten Mund.
„Ich werde euch jetzt etwas erzählen, eine Geschichte, die nur mit dem Herzblut einer Frau erzählt werden kann“ zwitscherte sie. „Ich komme aus Weimar. Mein Vater war ein angesehener Schauspieler am dortigen, wie ihr wisst, nicht ganz unbedeutenden Theater. Meine Mutter hatte Klavier und Gesang studiert, war aber zu Hause geblieben, um sich ganz ihren häuslichen Pflichten und der Erziehung von meinen älteren Brüdern und mir zu widmen. Nebenher gab sie Klavierunterricht und Gesangsstunden.
Zu ihren begabteren Schülerinnen gehörten zwei Zwillingsmädchen aus bitterarmen Verhältnissen. Meine Mutter hatte sie auf der Straße beim Hüpfspiel singen hören, in Lumpen gehüllt und mit verfilzten Haaren. Hätte sie sich ihrer nicht erbarmt, hätten solche Mädchen von Klavierspiel und Stimmbildung natürlich nicht einmal träumen können.
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