Wie so oft im Leben kämpften gute und böse Mächte mit ihnen und in ihnen, auch wenn man sagen muss, dass es überraschend ist, dass es die beiden schon in einem so jungen Alter traf. Aber Zwillinge stehen ja oft unter einem ungünstigen Stern. So war die eine ein gutes Kind, das unserem Mädchen im Haushalt half und Einkäufe und allerlei Botengänge für meine Mutter erledigte, während die andere sich mit Gassenjungen herumtrieb und früh in schlechte Gesellschaft geriet. Den einen oder anderen Groschen hatte sie sich wohl schon bald in der Horizontalen verdient.
Wir beobachteten die Entwicklung der beiden Schwestern natürlich auf das Genaueste und bangten darum, welche die andere wohl mehr beeinflussen würde. Nicht selten sind die schlechten Menschen ja die Stärkeren. Die Mächte des Bösen sind seltsam verführerisch und nur wenigen gelingt es, sich ihnen zu entziehen, wenn sie erst einmal ihre Klauen nach ihnen ausstrecken.
Zwischen Jette, der guten Zwillingsschwester und meinem nächstälteren Bruder Johann entspann sich eine zarte Liebesgeschichte. Doch Henny, die andere, die böse Zwillingsschwester, versuchte immer wieder, einen Keil zwischen die beiden zu treiben und Jette von Johann fortzuzerren. Fast wäre es ihr auch gelungen, denn auch meine Eltern beäugten die Liaison durchaus skeptisch. Immerhin wäre aufgrund des ja doch beträchtlichen gesellschaftlichen Unterschiedes eine Ehe in diesem Fall ein durchaus heikles Unterfangen gewesen.
Dennoch verlobten sich Jette und Johann, bevor Johann sich zum Militärdienst meldete. Natürlich wurde Hennys Einfluss auf ihre Zwillingsschwester wieder stärker, nachdem Johann fortgegangen war. Sie überredete sie, mit ihr durch zwielichtige Kaschemmen zu ziehen, und ihre gerade erst halb ausgebildeten Sangeskünste für wenig Geld und viel Alkohol darzubieten.
Dann erreichte uns die Nachricht, dass Johann schwer verwundet in einem Lazarett lag. Jette war untröstlich, doch Henny sah die Zeit gekommen, ihre Schwester mittels einer Intrige endgültig zu sich in das dämmerige Halbweltmilieu hinabzureißen, in dem sie selbst sich bewegte wie ein Fisch im Wasser. Sie redete Jette ein, Johann sei bereits tot, meine Familie belüge sie, um sie hinzuhalten und weiter als billige Haushaltskraft ausbeuten zu können. Schon damals hatten wir den Verdacht - der sich später bestätigte! -, dass Henny sich mit rotem Gesindel herumtrieb.
Die Verlockungen des billigen Glitzer und allerlei Tand stellen die Tugendhaftigkeit so mancher junger Mädchen auf eine harte Probe und Jette bestand sie nicht!
Sie folgte ihrer Schwester nach Berlin, wohin diese verzogen war, um dem schlechten Ruf, den sie sich in Weimar in ihrem jugendlichen Alter bereits erworben hatte, zu entgehen. Doch nur wenige Tage später kehrte Johann nach Hause zurück. Nachdem er seine letzte Kraft aufgewendet hatte, um sich von den schwersten Verwundungen, die er sich an der Front zugezogen hatte, zu erholen, ertrug er es nicht mehr, als wir ihm mitteilen musste, dass seine Verlobte sich von ihm abgewandt und es vorgezogen hatte, sich mit ihrer Schwester in Berlin herumzutreiben, statt zu Hause auf ihren Liebsten zu warten, wie es sich gehört hätte.
Mein Bruder Johann beging daraufhin Selbstmord. Mit einem alten persischen Dolch, der mit blutroten Rubinen verziert war, stach er sich mitten ins Herz. Mein Vater hatte den Dolch einst von seinem Großvater geerbt. Nie hätte er geahnt, dass er einmal seinem geliebten Sohn ein so fatales Ende bereiten würde!
Wer allerdings verstanden hat, dass hinter der materiellen Welt, wie wir sie mit dem bloßen Auge wahrnehmen können, noch ganz andere Kräfte lauern – gut und böse, die Mächte des Lichtes und die der Finsternis! - der wird schnell erkennen, dass es Hennys Hand war, die den edlen alten Dolch in das Herz meines Bruders rammte.
Dem gefallenen Engel, dem bösen Mädchen ist nicht zu helfen ...“ Die katzengrünen Augen der Frau blitzten, ihr kirschrot geschminkter Mund hatte sich zu einem diabolischen Lächeln verzogen. „... doch die gute, die tugendhafte Schwester, die Verlobte meines Bruders muss errettet und wieder auf den rechten Weg zurückgebracht werden!“ Die Frau machte eine kurze Pause. Ihr stattlicher Busen wogte vor Zsolnay, dem Einarmigen, der wie gebannt zugehört hatte. „Das Böse muss ausgemerzt werden! Deutschland, unser Land soll wieder in seinem einstigen Glanz erstrahlen! Möge es von den Kräften des Lichts einer ruhmreichen Zukunft entgegengeführt werden!“
Die Frau hatte die letzten Worte mit fester Stimme gesprochen. Ihr Blick hatte sich während sie geredet hatte, in der Ferne verloren. Es wirkte gekonnt, als hätte sie viele Jahre lang hart dafür gearbeitet. Mit einer weit ausholenden Bewegung, die aussah, als hätte sie einen Strauß Blumen von sich fortgeworfen, beendete sie ihre Geschichte. Die im Raum versammelten Herren klatschten.
Die Frau in dem grünen Abendkleid überreichte dem Dicken eine schäbige Kette aus bunten Perlen. Echte Edelsteine konnten das nicht sein, das sah Zsolnay sofort.
Plötzlich spürte er, wie ein Blick ihn fixierte. Der Dicke hatte seine fiesen kleinen Knopfaugen auf ihn gerichtet. „Das hier ist nur billiger Plunder! Die Steine sind nicht mal so geschliffen, dass man sie für echt halten könnte!“ Der Dicke wedelte mit der Kette über dem Tisch herum. Die Öllampe flackerte.
„Aber da steckt Zigeunermagie drin!“ fuhr der Zuhälter mit dröhnender Stimme fort. „Ist von irgendeinem Wallfahrtsort, wo ein Bauernmädchen eine Marienerscheinung hatte. Rumänien oder so. Graf Dracula. Hokuspokus, wenn ihr mich fragt. Schon alt. Für einen guten Freund von mir hat sie aber eine persönliche Bedeutung. Hat seinem Mädchen gehört. Die, bei der er immer war, wenn er in Hamburg war, in einem meiner Bordelle. Während des Krieges. War so'ne glutäugige kleine Schönheit vom Balkan. Manche stehen ja drauf.“
Hamburg also. Zsolnay hatte gedacht Kiel. Der norddeutsche Tonfall des Zuhälters klang ordinär. Als wäre er zwischen tätowierten Matrosen und stinkenden Fischabfällen groß geworden, was vermutlich auch der Fall war.
„Allerdings is' die Lütte hier nich' ganz komplett!“ Der Dicke lachte keckernd. Ein junger Mann mit pechschwarzen Haaren und dunklem Teint trat an den Tisch. Er musste gekommen sein, als die Frau in dem grünen Abendkleid ihre Geschichte erzählt hatte. Worum war es da noch einmal gegangen? Zwei Schwestern, von denen die eine sich mit einem Soldaten verlobt hatte, während die andere sich ihr Geld in der Horizontalen verdient hatte, gut und böse, die Mächte der Finsternis und die des Lichts. Na ja, mussten die gerade sagen, dachte Zsolnay. Aber den bösen Mädchen war sowieso nicht zu helfen, die waren von Grund auf verdorben. Das hatte die Frau ja auch durchblicken lassen.
Der Schwarzhaarige stellte ein kleines Schmuckkästchen vor den Dicken auf den Tisch und öffnete es. Zsolnay starrte das Kästchen entgeistert an. Ein blauer Edelstein lag auf ein Stückchen glänzenden hellen Stoff gebettet darin. An seinen kunstvoll geschliffenen Ecken brach sich das Licht der Öllampe wieder und wieder, sodass die Mitte des Tisches in einem unwirklichen blauen Leuchten erstrahlte. „Der gute Junge hier war einst im Besitz des letzten Großmoguls von Delhi. Mein Freund wollte seiner kleinen Lieblingsnutte wirklich etwas Gutes tun. Nun sind die Dinge etwas anders gekommen ...“ ließ der Dicke sich vernehmen.
Für Zsolnay hörte es sich plötzlich so an, als käme seine Stimme von ganz weit her. Die Gesichter der anderen am Tisch wirkten durch das blaue Licht, das von dem beeindruckenden Edelstein ausging, seltsam blass. Ihre Züge schienen sich fast aufzulösen.
„Ihr beiden Jungs von Bodo von Hasenbeck, unserem tapferen Märtyrer, ihr bringt mir die Kette zu meinem Freund!“ Die dröhnende Stimme des Dicken war jetzt wieder ganz nah an Zsolnays Ohr. „Er wohnt etwas außerhalb von Berlin. Morgen Abend wird ein Auto euch vor dem Kaufhaus des Westens abholen. Die Beifahrerin, ein Häschen aus meinem Stall, wird die Kette als Erkennungszeichen um den Hals tragen. Sie steigt im Wedding aus und überlässt euch das gute Stück. Ihr übergebt es dann meinem Freund, mit freundlichen Grüßen von Heiner. Der weiß dann schon, was gemeint ist. Und dass mir kein einziger Stein an der Kette fehlt! Auch wenn's bloß Glasperlen sind – ich erwarte soldatische Disziplin!“
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