Sobald sich die Tür hinter ihrem Kollegen geschlossen hat, sucht Inge mit Blicken das Zimmer ab. Hier gibt es zwar ein weiteres Bett, doch das ist leer. Sie wird also weder von anderen Besuchern, noch von einem Patienten gestört werden. Wenn sie die Augen schließt, wird sie voraussichtlich gut schlafen können. Sie schaltet das Deckenlicht durch einen Knopf an der Patientenkonsole ab. Sofort umgibt sie lediglich ein leichtes Dämmerlicht und sie gleitet schnell in den inzwischen herbeigesehnten Schlaf.
Inge träumt, dass sie sich in einem Krankenhaus aufhält. Doch dieses Mal ist nicht sie, sondern Clas der Patient. Es muss etwas mit seinem Kopf passiert sein. Das wäre eine Erklärung für den Verband, der diesen umhüllt. Die Kommissarin erinnert sich im Traum, weshalb ihr Kollege in der Helios-Klinik in Schwerin liegt. Er wollte einen Verdächtigen in einem Bootsschuppen stellen. Dabei stolperte er in der Dunkelheit über ein Hindernis und verletzte sich heftig.
Inge hört das Schließen der Zimmertür und reißt erschrocken ihre Augen auf. Sollte nicht sie, sondern Clas in diesem Krankenhausbett liegen? Sie tastet nach dem Lichtschalter. Helles Licht flutet das Zimmer. Sie blinzelt und schaut sich um. Es ist offensichtlich, sie ist die Patientin und hat kein Déjà-vu! Sie atmet erleichtert auf, runzelt aber sofort darauf verwundert die Stirn.
»Ich habe eine Infusion bekommen, doch die ist inzwischen fort. Wird die Krankenschwester den Tropf abgenommen haben? Davon habe ich nichts gemerkt!«
Die Schwester hatte gesagt, dass sie sich nicht erschrecken solle, weil ihr Blutdruck und die Körpertemperatur alle paar Stunden kontrolliert werden würden. Und das auch während der Nacht. Das sollte sicherstellen, dass ihr Kreislauf stabil ist und sie durch die Gehirnerschütterung nicht doch noch einen größeren Schaden nimmt.
Ihr Schlaf muss sehr tief gewesen sein, da sie davon bisher nichts mitbekommen hat. Das mit der Infusion erhaltene Schmerzmittel wird vermutlich seinen Teil dazu beigetragen haben. Darüber wurden ihrem Körper zusätzlich Wasser, Salze und Nährstoffe zugefügt, weshalb sie inzwischen dringend die Toilette aufsuchen möchte.
Inge richtet sich vorsichtig auf und schiebt zuerst nur die Beine über die Bettkante. Sie wartet, ob ihr womöglich schwarz vor Augen wird. Das kann bei ihrem sonst niedrigen Blutdruck schnell passieren. In dem Fall hätte sie nach der Nachtschwester klingeln müssen. Da das nicht eintritt, wagt sie es, allein zum WC zu schlurfen.
Trotzdem sinkt sie anschließend ermattet aufs Bett. Auch wenn sie nicht umgekippt ist, sie hat sich an dem zweiten Bettgestell und dem Türrahmen festgehalten, war die Aktion erstaunlich anstrengend. Ihr Atem geht flach und das Herz pocht heftig in ihren Ohren. Sie spürt kalten Schweiß auf den Handrücken und atmet langsam ein und aus. Das hilft und stabilisiert den Kreislauf, wie sie weiß. Sie hofft, trotz ihrer Schwäche nach der Visite am kommenden Morgen entlassen zu werden. Inge will durch einen Blick in das polizeiliche Intranet sicherstellen, dass die Frau aus dem Kaufhaus nicht doch noch auf dem Polizeirevier eine Anzeige gegen Murat Osakin erstattet hat. Falls das jedoch geschehen ist, möchte sie dem ausländischen Studenten raten, sich einen Anwalt zu nehmen. Seine Adresse im Studentenwohnheim ist ihr bekannt. Sie will verhindern, dass der junge Mann einen falschen Eindruck von den Bewohnern Wismars bekommt. Fremdenfeindlichkeit verabscheut sie zutiefst. Mit diesen Gedanken schläft sie traumlos ein.
Inge Husmann wird heute aus dem Krankenhaus entlassen. Das geschieht allerdings nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Der Stationsarzt hätte sie noch gerne einen weiteren Tag zur Beobachtung dortbehalten. Der plötzliche Zusammenbruch der Kommissarin und ihre Verwirrtheit geben ihm zu denken. Da auf den CT-Aufnahmen jedoch keine innere Verletzung und kein sonstiger körperlicher Schaden zu erkennen sind, will die willensstarke Frau so schnell wie möglich das Spital verlassen. Sie wartet voller Ungeduld auf ihren Kollegen, den sie vor einer halben Stunde angerufen hat.
»Clas hat mir versprochen, mich abzuholen. Wo bleibt er dann jetzt so lange?« Inge befindet sich im Eingangsbereich der Klinik und schaut auf ihr Handy. Es ist inzwischen bereits Nachmittag, da sich die Untersuchung durch den Arzt länger als gehofft hingezogen hatte. Anschließend dauerte das Prozedere mit der Entlassung, weshalb sie kein Mittagessen mehr bekommen hat. Ihr Magen knurrt, was sie als Zeichen wertet, gesund zu sein, trotzdem sollte Clas hoffentlich bald hier eintreffen. Oder hat er ihr eine Nachricht geschickt und sein Versprechen widerrufen? Doch nichts dergleichen ist geschehen. Sie hält das Smartphone in der linken Hand und läuft unruhig hin und her. Hinsetzen möchte sie sich nicht. »Ob ich ihn noch einmal antelefoniere?«, überlegt sie nicht zum ersten Mal. Das macht sie dann jedoch nicht. Er hat in ihrem Telefonat zwar nur mit: »Ok, komme«, geantwortet, aber das schiebt sie darauf, dass er in einem Gespräch mit Kollegen gewesen sein wird.
Plötzlich klatscht sie sich beinahe mit der Rechten vor die Stirn. Sie bremst zum Glück die Bewegung ihrer Hand. Mit dem geschienten, kleinen Finger wäre das nicht unmöglich, doch das Resultat wären vermutlich erneute Schmerzen. Und die möchte sie lieber vermeiden. Ihr ist abrupt bewusst, dass ihr Anruf zwar nach der üblichen Mittagspause erfolgte, dennoch konnte sich der Kollege in einer Lagebesprechung befinden.
»Clas Hinnerk. Anstatt hier auf dich zu warten und dumm herumzustehen, hätte ich mir ein Taxi ruf…«
Sie hat den Satz noch nicht vollendet, da hält ein Auto vor dem Eingang des Krankenhauses. Es ist ein Dienstfahrzeug der Kriminalpolizei. Kurz darauf eilt der soeben gedanklich Gescholtene durch die sich automatisch öffnende Glastür.
»Es tut mir leid, Inge. Aber es ging wirklich nicht schneller. Es gibt möglicherweise einen neuen Fall, zu dem ich dich gern hinzuziehen würde, wenn du nicht verletzt wärst.«
»Worum geht es? Und jetzt bitte keine Rücksichtnahme auf die läppischen Blessuren. Ich fühle mich voll einsatzfähig!«
»Du magst das derart einschätzen, unser Chef ist dagegen anderer Ansicht. Du wirst krankgeschrieben und musst zuhause bleiben.«
»Wie das?« Die Kommissarin blickt den Kollegen erstaunt an. »Das Krankenhaus stellt mir keine Dienstunfähigkeit aus. Wenn ich nicht zum Hausarzt gehe, der sich übrigens in Stralsund befindet, wer soll mich da krankschreiben? Außerdem wäre das ohnehin lediglich eine Empfehlung, der ich nicht folgen muss!«
»Solltest du dir in Wismar noch keinen Arzt gesucht haben, wird es jetzt aber Zeit. Wegen einer Krankheit von hier bis kurz vor Rügen zu fahren, ist eher umständlich.«
»Das ist ja wohl nicht deine Sache!« Inge zieht eine Schnute. »Zurück zu meiner Dienstfähigkeit. Wir sind im Kommissariat chronisch unterbesetzt. Da müsste unser Chef doch froh sein, falls ich trotz dieser Lappalie zum Dienst antrete. Nicht jeder ist dagegen, sich ohne Grund auf die faule Haut zu legen.« Ihre Stirn ist gekraust und dahinter ziehen offensichtlich dunkle Wolken auf.
»Jetzt komm zuerst ins Auto«, versucht Clas ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Dann reden wir in Ruhe darüber.« Er will ihr beim Einsteigen helfen und die Tür aufhalten. Doch das verhindert Inge mit einem bitterbösen Blick.
»Ich schaffe das schon. Du musst mich nicht bemuttern!« Auf seinen erstaunten Gesichtsausdruck hin, schiebt sie schnell ein »Danke« hinterher, dass ihren schroffen Ausspruch herunterspielen soll.
Sobald beide im Fahrzeug sitzen, startet Hauptkommissar Hinnerk den Motor und fährt ohne eine Erwiderung los.
Die Fahrt vom Hanse-Klinikum zum Kommissariat dauert mit dem Auto etwa zehn Minuten. Die sind zur Hälfte vorbei, da lenkt die Kommissarin ein.
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