Besonders erfolgreich erschien in den ersten Monaten nach dem Krieg zunächst eine bestimmte Extremposition: die des Kommunismus. Auch das kann man sich gegenwärtig nur schwer vorstellen. Heute wirkt – zumindest in Europa – die Oktoberrevolution eher wie ein isolierter Einzelfall, der nur durch sowjetische Gewalt und durch den nächsten Weltkrieg in die Länder Mittel- und Osteuropas getragen werden konnte. Von der von Lenin versprochenen „Weltrevolution“ kann im historischen Rückblick keine Rede sein. Im Winter 1918 sah das allerdings noch ganz anders aus. Die Oktoberrevolution lag erst ein Jahr zurück, und plötzlich gab es vielerorts in Europa linke Gruppierungen, die eine ganz ähnliche Revolution wie in Petersburg anstrebten. Eine Zuspitzung schien unausweichlich. In Deutschland geschah das schon sehr früh in der Novemberrevolution, die 1918 zumindest in Teilen des Landes Arbeiter- und Soldatenräte nach sowjetischem Vorbild hervorbrachte. Einen Höhepunkt erreichte die Entwicklung im Frühling 1919 mit der Münchner Räterepublik und ihrer gewaltsamen Niederschlagung durch regimetreue und rechtsradikale Verbände, die freilich genauso wenig demokratiebegeistert waren wie die Anhänger der Räterepublik. Nach der Oktoberrevolution und einer ganz ähnlichen Revolution in Ungarn war der in München nun schon der dritte dieser bolschewistischen Aufstände. Sorge vonseiten der rechtsautoritären Kräfte war also durchaus angebracht!
Ein besonders lehrreiches Beispiel kann uns die Niederschlagung der erwähnten ungarischen Räterepublik bieten. Immerhin kam als Folge dieser kurzlebigen Revolution ein ausgesprochen ehrenwerter Kollege von Ihnen in Budapest an die Macht. Ein Mann, der Ihnen als Mentor so einiges über autoritäre Politik beibringen kann. Der roten Republik in Ungarn wäre aber wohl auch ohne ihn kein gutes Schicksal bestimmt gewesen. Als diese im April 1919 proklamiert wurde und die neue Führungsschicht daran ging, ihre links-revolutionären Ideen zu verwirklichen, waren die Probleme eigentlich schon vorauszusehen. Zu mächtig und zu zahlreich waren die Gegner der Maßnahmen, und schon im August fand das Regime sein Ende, als zu allem Überfluss auch noch rumänische Truppen in Budapest einmarschierten. Die rechtsautoritäre Gegenbewegung ließ nicht lange auf sich warten. Bereits im Frühjahr des Folgejahres saß ein gewisser Herr Miklós Horthy im Sessel der Macht. In einem absurden ungarischen Königreich ohne König wurde er Reichsverweser. Wir werden in diesem Buch noch an einigen Stellen von diesem Mann hören, doch eine seiner ganz zentralen Charaktereigenschaften möchte ich gleich am Beispiel seiner Machtübernahme ansprechen: Er spielte von Beginn an meisterhaft mit den Feindbildern der ungarischen Gesellschaft. Feind war zuallererst der Kommunist. Nach der blamablen Niederlage gegen Rumänien war auch der letzte Bonus der Kommunisten verspielt, und Horthy verstand es aufs Beste, sich als Bollwerk gegen eine Rückkehr dieser „linken Chaoten“ und „Volksverräter“ zu positionieren. Ganz nach dem Handbuch also. Dennoch traf auch auf Ungarn im Jahr 1919 zu, was fast immer zutrifft. Die Allerwenigsten wünschten sich einen Diktator, auch nicht in Person Miklós Horthys. Aber sie sahen das Problem, und dieser Horthy, Admiral der k. u. k.-Armee und Vertreter einer „alten Größe“, war zumindest ein ausgewiesener Gegner des kommunistischen Terrors und somit eine glaubhafte Lösung. Er war ein Garant für die Stabilität des Landes und dadurch ein Kompromiss, den viele Schichten Ungarns zu tragen bereit waren.
Als echter Diktator verstand sich Horthy in der Folgezeit allerdings nicht, zumindest nicht, was seinen Herrschaftsstil anging. Er bevorzugte es, wie ein herkömmlicher Monarch zu regieren und Ministerpräsidenten unter sich einzusetzen, die die Tagespolitik Ungarns gestalteten – wie in der guten alten Zeit eben, in der Horthy selbst aufgewachsen war. An seiner Legitimation änderte das freilich nichts. Er war angetreten, um ein Problem zu lösen, und der Reichsverweser stand die nächsten zwei Jahrzehnte vor allem für ein Versprechen: Unter ihm würde es in Ungarn niemals wieder eine linke Revolution oder auch nur eine starke linke Bewegung geben. Und dieses Versprechen vertrat er recht glaubwürdig. So war Horthy der letzte nennenswerte europäische Staatsmann, der Anfang der Dreißigerjahre die Sowjetunion als Staat anerkannte – über fünfzehn Jahre nach der Oktoberrevolution und zu einem Zeitpunkt, an dem niemand mehr die Staatlichkeit dieses Regimes hätte anzweifeln können. Dass ihn sein Lieblingsfeindbild, die Bolschewisten, später auch in den politischen und persönlichen Abgrund trieb und ihn zu einer Allianz mit Nazideutschland und der Teilnahme am deutschen Russlandfeldzug verführte, ist ein anderes Thema. Und es ist auch alles nicht so tragisch! Zum Zeitpunkt seines Sturzes war Reichsverweser Miklós Horthy immerhin 24 Jahre lang im Amt gewesen und inzwischen weit über siebzig Jahre alt. Seinen Lebensabend durfte er dann außerdem im klimatisch wie politisch freundlichen Portugal verbringen. Ich bin mir sicher, als Möchtegerntyrann werden Sie mir zustimmen: Man kann sich für die eigene Rente Schlimmeres vorstellen.
An allem sind die Juden schuld … und die Kommunisten … und die Demokraten sowieso
Wir müssen aber natürlich nicht bis nach Ungarn schauen, um zu sehen, welche Auswirkungen eine gescheiterte Revolution haben kann. Die Räterepublik von München und ihre Niederschlagung im April 1919 hatten es schließlich genauso in sich! Die eigentliche Revolution begann in Deutschland schon deutlich früher als in Ungarn, und zwar im November 1918. In den meisten Teilen des Landes flaute die revolutionäre Laune im Laufe des folgenden Frühlings aber schon merklich ab. Nicht so jedoch in Bayern. Nach der Ermordung des revolutionären Ministerpräsidenten Kurt Eisner durch einen rechtsradikalen Attentäter heizte sich die Stimmung ab Februar 1919 erst so richtig auf und mündete Anfang April in der Ausrufung einer Räterepublik nach sowjetischem Vorbild. Die hatte mit ihrem fast zeitgleich entstehenden Pendant in Budapest auch sonst so einiges gemein. In Bayern wie in Ungarn waren Revolution und Räterepublik – soweit kann man es wohl sagen – nie von einer Mehrheit getragen. So genoss diese Republik auch nur in der Stadt München und in der unmittelbaren Umgebung eine gewisse Autorität. Bereits am 1. Mai 1919 war es mit dem Spuk wieder vorbei. Da marschierten antirevolutionäre Truppen in München ein, teils Anhänger des ehemaligen (oder nach seiner Meinung noch aktiven) sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann, teils gewalthungrige Freikorps, Überbleibsel der Weltkriegsarmee mit oft rechtsradikalem Hintergrund.
Das Ende der Münchner Räterepublik war dann auch entsprechend blutig. Hunderte meist unschuldige Münchner wurden von den heranrückenden Truppen auf offener Straße ermordet. Als Resultat herrschten in der Stadt schon bald wieder „Recht und Ordnung“. So sehr sogar, dass München in der Folgezeit eine Kehrtwende um 180 Grad hinlegte und vom linksrevolutionären Hort zur „Ordnungszelle“ Deutschlands wurde. Nirgends waren das rechtskonservative und rechtsradikale Lager in der Zeit der Weimarer Republik stärker verwurzelt als hier. Der Feind war in diesem antirevolutionären Lager Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg bereits deutlich erkennbar. In allem, was in Deutschland seit dem Kriegsende schiefgelaufen war, gab es einen gemeinsamen Nenner: die Juden. Die Juden waren daran schuld, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Wir haben ja bereits über die Dolchstoßlegende gesprochen, die zwar ein schon damals offensichtliches Lügenkonstrukt war, trotzdem aber weitum geglaubt wurde. Darüber hinaus war nach Meinung der Rechtsradikalen auch die Räterepublik in München ein jüdisches Konstrukt. Gleichzeitig aber hielten die Juden nach wie vor alle Produktionsmittel und das Kapital der Welt in ihren Händen. Man wollte ja keine altehrwürdigen Vorurteile opfern, nur weil sich auch neue boten. Wie ein und dieselbe Gruppe zugleich den bolschewistischen Umsturz des Systems und die Profitmaximierung in eben jenem System betreiben konnte, das unter einen Hut zu bekommen, war ein besonderes Kunststück … Aber so genau hat damals wohl keiner nachgefragt. Für das Nachfragen sind Rechtsradikale ja auch heute noch nicht berühmt.
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