„Verstehst du? Ich spüre mich irgendwie auf.“
„Aha!“, sagt sie.
„Aha, was?“
„Verwechselst du da nicht bedeutsam mit interessant? Was dir bedeutsam vorkommen mag, ist für andere vielleicht stinkend langweilig.“
„Du meinst die Leser?“
„Natürlich meine ich die Leser. Oder soll es keine geben?“
„So genau habe ich mir das noch nicht überlegt. Im Augenblick ist das eher so als würde ich in mich hineinschauen. Ich versuche das dann zu beschreiben.“
Adriana nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. Sie lässt sich Zeit. Überlegt.
„Im Ernst, du musst dich entscheiden, für wen du schreibst, und ich will offen zu dir sein, ich hasse Menschen, die mir ihre Selbstfindung aufdrängen wollen. Es strengt mich zu sehr an, dauernd Interesse heucheln zu müssen.“
„Wow, du kannst einen wirklich ermutigen“, sage ich.
Adriana lächelt jetzt irgendwie liebevoll, und ich ärgere mich.
„Im Grunde ist es doch immer so, dass man sich ein Publikum vorstellt“, sage ich.
„Wirklich? Ist es nicht so, dass manch einer seinen Überzeugungen oder Taten mit der Feststellung Berechtigung erteilt, er tue das nur für sich, um jede mögliche Kritik von vorne herein zu entschärfen?“, fragt sie.
„Vermutlich.“
„Umso mehr sollte man sich immer im Klaren darüber sein, dass wichtig ist, was die Story voranbringt. Zum Beispiel die Kontinuität. Der Faden.“
„Frei nach Hemingway?“, sage ich.
„Wer hätte gedacht, dass auch du über eine gewisse Bildung verfügst. Jetzt erzähl schon deine erste Erinnerung“, sagt Adriana.
„Auch ich kroch auf dem Boden herum. Allerdings war es ein endlos langer Flur, so kam er mir jedenfalls vor. Ich spielte mit Murmeln. Weißt du noch, diese Glasmurmeln mit solchen farbigen Spiralen darin? Sie waren unterschiedlich groß. Was ich heute noch deutlich in mir vernehme, ist das Geräusch der Murmeln, die an der Fußleiste entlang über den Flur rollen. Das ist Wahnsinn: Ich höre tatsächlich noch, wie sie von mir wegkullern, leiser werden, der Ton immer heller, bis er plötzlich stoppt und ich noch eine Murmel hinterherschicke. Ich kroch durch den Flur, es war das erste Apartment meiner Eltern in Mexico City. Vorbei an zwei offenen Türen. Da war wohl ein Arbeitszimmer. Vom anderen Zimmer weiß ich nichts mehr. Der Flur mündete ins Wohnzimmer, und das kann ich genau beschreiben. Manchmal hob mich meine Mutter auf ein Sofa, das vor dem Fenster stand. Das Sofa war grün. Ich schaute genau auf die Kreuzung Insurgentes und Taxqueña und auf die Bushaltestelle, und es ist so erschreckend klar, dass ich heute Nacht fürchtete, ich könnte durch die schiere Kraft meiner Vorstellung in jene Zeit zurückgeschleudert werden und alles beginne wieder von dort an. Immer wieder.“
„Und wäre das so schlimm?“, fragt Adriana.
„Wenn ich dann wüsste, dass ich alles schon einmal durchlebt habe, wäre es phantastisch. Stell dir mal die Möglichkeiten vor. Die Fehler, die ich vermeiden könnte. Aber ahnungslos? Das Leben noch einmal?“
„Für dich wäre es ja immer das erste Mal“, sagt Adriana.
„Stimmt. Warum habe ich dann heute Nacht diese Furcht empfunden?“, sage ich.
„Vielleicht hattest du Angst, ausgelöscht zu werden, zurückgeführt in einen sehr elementaren Zustand. Das wäre wie der Tod, denn von dir bliebe nichts, du wärst auf diesem Sofa mit Blick auf diese Kreuzung wieder ein anderer.“
„Ja“, sage ich.
„Und weiter?“, fragt sie.
„Es sind wirklich meine ersten Erinnerungen, Ich muss drei oder vier gewesen sein. Da waren etwas später noch die Spaziergänge in einem kleinen Park vor dem Häuserblock. Nichts Besonderes: Ein grüner Fleck. Eingeklemmt zwischen drei großen Straßen. Meine Mutter ließ mich nicht aus den Augen. Um uns herum floss dieser unaufhörliche, laute Verkehr. An der Bushaltestelle gab es Stände, die gekochte Maiskolben anboten oder Gurkenstreifen mit Chilepulver. Ich weiß noch, dass ich immer ein Wassereis haben wollte, aber nie durfte. Und da war noch der Affe und die Hand von Alvaro Obregón.“
„Das musst du mir aber näher erklären“, sagt Adriana und gießt uns noch einen Kaffee ein.
„Der Reihe nach. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem winzigen Vorgarten stand ein runder Affenkäfig, und an manchen Tagen saß dort sogar einer drin. Es war ein kleines Äffchen, ein Kapuzineraffe. Er war zweifarbig. Vorne und um das Köpfchen herum gelb und am Hintern schwarz. Wenn ich Glück hatte, fraß er gerade ein Stück Obst. Ich konnte mich nicht sattsehen und fand es zum Lachen, wenn der Affe wie irrsinnig schrie und in dem Käfig hin und her turnte.“
„Das fandest du schön?“, fragt Adriana.
„Ja.“
„Und die Hand?“
„Es gab in der Nähe ein riesiges Monument mit einem gläsernen Kasten, in dem die verschrumpelte und abgeschossene Hand von Alvaro Obregón ausgestellt wurde.“
„Wer zum Teufel ist Alvaro Obregón?“
„Ein mexikanischer Präsident in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Man errichtete das Monument an dem Ort, wo er ermordet wurde.“
„Und dabei die Hand verlor?“, fragt Adriana.
„Nein, die Hand verlor er Jahre zuvor in einer Schlacht.“
„Klingt einleuchtend.“
„Ich fand die Hand toll. Sie war noch blutverkrustet, und ein Stück Ärmel hing auch daran. Sie stand aufrecht im Kasten.“
„Noch etwas?“
„Es gab da noch ein kleines Wäldchen mit Nadelbäumen. Ich habe da öfter an einen Baum gepinkelt“, sage ich.
„Und?“
„Und, was?“
„Ist diese Geschichte nun bedeutsam oder nicht?“
„Das weiß ich noch nicht“, sage ich. „Aber sie klingt doch gut. Und ab jetzt schreibe ich, wie soll ich es sagen, richtungsorientierter.“
Sie sah aus, als wäre sie versehentlich auf der falschen Veranstaltung gelandet. Ich stand im Halbdunkel des Musikzimmers und beobachtete das Geschehen in der Großen Diele, in der sie alle jetzt etwas ratlos herumstanden und Grüppchen bildeten. Gloria, die Hausdame, nahm den eintreffenden Trauergästen die Mäntel ab und versuchte, sich auch sonst irgendwie nützlich zu machen. Allein ihre Geschäftigkeit genügte, um die betretene Atmosphäre etwas zu entkrampfen. Und da war noch dieses Mädchen, kaum älter als ich, in buntem Minikleid, eine Fackel inmitten der dunklen Schar. Hatte man die Arme nicht über den Anlass informiert? Offensichtlich litt sie Höllenqualen und versuchte, sich in einer Nische am Eingang möglichst unsichtbar zu machen. Es gelang ihr nicht. Ich wartete und versuchte herauszufinden, in wessen Gesellschaft sie eingetroffen war, aber es kümmerte sich keiner um sie. Das Gemurmel der Leute wurde etwas lauter, als meine Eltern Hand in Hand die geschwungene Treppe hinunterschritten. Sie liebten den großen Auftritt. Ich fragte mich, wie viele Gläser Chablis meine Mutter im Laufe des Morgens wohl bereits geleert hatte. Ihr schmales, hochmütiges Gesicht wirkte verschwommen, fast lieblich. Mein Vater hingegen sah so aus wie immer, hünenhaft, unverletzlich, braungebrannt und gutgelaunt. Er konnte nicht anders. Die Lachfältchen um seine grauen Augen, die nach oben gezogenen Mundwinkel. Um meinen Vater waberte stets eine Aura ungetrübten Optimismus, auf den sich alle nur allzu gern einließen. Jetzt nahmen meine Eltern die Beileidsbekundungen entgegen, wechselten mit manchen ein paar Worte, einen festen Händedruck, umarmten andere und lächelten tapfer. Ich wusste ja, dass sie ein sicheres Gespür für die formvollendete Etikette hatten. Sie waren so erzogen worden. Mein Vater hielt sich gut, aber das wunderte mich nicht, denn der Tod seines Vaters hatte ihn nicht besonders berührt. Das hatte er mir am Abend zuvor in einem Anfall von Vertrautheit und männlicher Zuneigung erzählt, und ich hatte verständnisvoll genickt. Bei mir löste Großvaters Dahinscheiden aus anderen Gründen eher Unbehagen aus.
Читать дальше