Also, warum ich nach so langer Zeit gerade daran denken muss, ist mir nicht ganz klar. Ich könnte auch keinen stichhaltigen Grund nennen, warum ich diese Episode an den Anfang dieser Aufzeichnungen stelle. Vielleicht ist es ein Gefühl, das immer noch undeutlich nachhallt. Und ein Erklärungsversuch. Über die Jahre flackerte diese Erinnerung immer im Hintergrund. Ich schreibe sie einfach ebenso holprig auf, wie ich sie wachrufe.
Ich war damals in jenem Sommer mit meinen Eltern unterwegs. Tage zuvor in Helsinki hatten wir uns bei ungeheurer Hitze die Stadt angeschaut. Es wurde nie dunkel. Im matten Schein der Mitternachtssonne lagen Betrunkene in Parks und auf Uferböschungen herum wie fallengelassene Puppen. Wir fuhren auch nach Leningrad. Wir besuchten die Eremitage. Schlenderten unter ständiger Aufsicht die Neva entlang. Bestaunten irgendwelche Prachtbauten.
Ich weiß noch, da war ein kleiner Platz mit spärlichen Grünflächen, einer Kinderschaukel, einem bronzenen Leninkopf auf einem Sockel. Hin und wieder ertönten Politparolen aus öffentlichen Lautsprechern und dann, plötzlich und fremd, „Eleanor Rigby“ von den Beatles. Niemand horchte auf oder unterbrach sein Tun.
Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte.
Mir geht es jedoch um diese Sache in Rovaniemi.
Zurück im Hotel. Noch ein wenig zittrig. Ich ging durch die üppig mit Marmor ausgestattete Lobby und sah sie hinten schon auf ihren Barhockern. Sie wirkten angetrunken und alt und auch nicht besonders sympathisch. Meine Eltern. Kultivierte Großbürger. Ruhten in ihrem Selbstverständnis. Ich wollte plötzlich nicht mehr zu ihnen. Obwohl ich sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verabscheute.
Sie schritten vorgeblich sorgenfrei durchs Leben. Mein Vater musste nicht wirklich arbeiten. Zu verabredeten Terminen erschien er bei irgendwelchen Sitzungen und leistete seine Unterschrift. Er tat immer so, als hätte er das Sagen.
Meine Mutter war zufrieden. Sie malte riesige Bilder. Sie liebte es, in ihrem Atelier zu stehen, viel Chablis zu trinken und meinen Vater bei sich zu haben. Alles ziemlich normal.
Das dachte ich damals wirklich. Ich lag falsch.
An jenem Tag in Rovaniemi aber lenkte mich Eva von meinen Eltern ab. Sie saß weiter hinten in der Lobby in einem tiefen Ohrensessel. Ihre Familie war in unserer Reisegruppe. Eva. Sie sah wirklich gut aus mit ihren kurzen, rötlichen Haaren, den Stirnfransen. Ein ebenmäßiges Gesicht und Jeanne-Moreau-Lippen. Mir gefiel ihre lässige Art. Sie winkte mir zu. Einer merkwürdigen Eingebung folgend, fragte ich Eva, ob sie Lust hätte, mit mir spazieren zu gehen. Ihr Lächeln war Antwort genug. Erwartungsvoll nahm ich sie mit hinaus in den heißen Nachmittag.
Ohne groß zu zögern, ging ich wieder um das Hotel herum in den Wald und bog in den kleinen Weg ein, den ich vor nicht einmal zehn Minuten verlassen hatte. Eva hängte sich bei mir ein, doch zwischen den Bäumen war der Pfad wirklich sehr schmal. Vorsichtig löste ich ihren Arm von meinem und ließ sie vorgehen. Wieder war ich von der zwielichtigen Kühle angetan. Ich erlebte den feuchten Waldgeruch noch intensiver als vorher. Ich blieb dicht hinter ihr. Sie trug Jeans mit weitem Schlag, einem kleinen roten Stoffsaum und tief um die Hüfte einen breiten Ledergürtel. Ihr eng gehäkeltes rotes Top wurde hinten von einem Bändchen zusammengehalten und ließ ihren ganzen Rücken frei.
Dann standen wir auf der Lichtung.
Ich tastete nach Evas Hand. Sie war ein wenig erstaunt. Ich war sehr wachsam, sehr bei mir. Vor uns die Holzkapelle, hell im einfallenden Licht.
Sie sagte mir, wie schön sie diesen Ort fände, und ich ging darauf ein und tat so, als wäre das alles neu für mich. Genau am richtigen Punkt hielt ich an, und wie auf ein Zeichen kam der geifernde Hund herausgeschossen. Eva schrie und wollte instinktiv wegrennen. Ich warf mich schützend auf sie. Erwartungsgemäß hängte sich das Tier etwa zwei Meter von uns entfernt in seine Kette. Das Würgen und Schnauben bedrohlich nah. Ich war erleichtert, stolz, die Distanz richtig eingeschätzt zu haben. Mir ging es großartig, während ich das zitternde und ängstliche Bündel Mensch unter mir umklammerte.
Die nächsten Tage verschwimmen. Ich saß wohl im Bus jetzt immer neben ihr. Ich fühlte mich sicher, vielleicht unverletzlich. Und hauptsächlich träge.
Ich hätte die Sache mit dem Hund ausnützen können. Als sie mich aber einmal gegen Ende der Reise in Hammerfest mit auf ihr Zimmer nahm, blieb ich tatenlos. Wir tranken Bier auf ihrem Balkon. Wir hörten fünfmal hintereinander „Joan of Arc“ von Leonard Cohen. Es war schön. Sie erwartete offensichtlich einen Kuss von mir. Erwartete eine Geste. Ich ließ es vorbeigehen. Warum, weiß ich nicht mehr. Ich bin überzeugt, ich hätte in jener taghellen Nacht mit ihr schlafen können. In ihren Augen war ich ja so etwas wie ein Held gewesen.
Wir verbrachten danach noch einen Tag in Hammerfest. Es gab dort nicht wirklich viel Aufregendes zu besichtigen. Die müden Reisenden scharten sich um den phallusförmigen Meridianstein. Hier hatten Russen, Schweden und Norweger im Jahr 1816 gemeinsam etwas vermessen. Ich stand mit Eva im Hintergrund. Sie hatte den Arm um mich gelegt. Mir nah. In gewisser Weise freute mich das. Danach marschierten wir auf einen Hügel und schauten von dort aus auf das kleine Fischerdorf und auf den Nordatlantik. Uns wurde bewusst, dass wir hier fast am Ende der Welt standen. Es war schon komisch.
Am nächsten Morgen wehte ein kalter Wind über das Flugfeld. Auf uns wartete eine kleine zweimotorige Propellermaschine, die uns nach Oslo bringen sollte. Eva hasste das Fliegen, und als wir uns endlich in die engen Sitze gezwängt hatten, ließ sie sich von mir trösten. Ich versicherte ihr, dass Flugzeuge nur höchst selten abstürzten und dass Turbulenzen völlig ungefährlich wären. Es lief gut. Als wir in Oslo landeten, war Eva an meiner Schulter eingeschlafen. Kurz darauf trennten sich unsere Wege, sie musste an ein anderes Gate. Da waren wir nun, hielten uns an den Händen, tauschten Adressen aus. Sie hielt meinen Kopf, zog mich zu sich und berührte mit ihren wunderschönen Lippen meinen Mund.
Hey, Federico, sagte sie und es klang wie eine Anerkennung.
Dann ging sie, drehte sich noch einmal um und winkte. Ich blieb einfach stehen, ein wenig verwirrt. Ich fragte mich, für wen sie mich gehalten hatte.
Bald darauf wurde unser Flug nach Hamburg aufgerufen.
Kapitel 3: Südspanien, 2009
Gut. Ich habe angefangen. Ich habe etwas niedergeschrieben. Der Text liegt ausgedruckt und wie ein stiller Vorwurf auf dem Schreibtisch. Bedauerlicherweise ist das mehrere Tage her. Seitdem habe ich die wenigen Zeilen immer wieder überarbeitet. Ich kenne die Worte auswendig. Aber ich habe kein Vertrauen mehr in ihre Aussagekraft. Bin ich erkennbar? Seht her, das bin ich, Federico Henschel. Oder besser: So war ich. Es ist noch zu undeutlich.
Ich streiche jeden Tag um den Computer herum und erstarre meistens, wenn es darum geht weiterzumachen. Weiter. Wohin? Ich schiebe meine Notizen hin und her. Auf einigen Zetteln stehen Namen. Neulich habe ich ganz wichtig Eva durchgestrichen. Da, sieh her, geschafft! Aber das war es auch schon. Meine Kreativität erschöpft sich mittlerweile in Vermeidungsstrategien. Ich gehe einkaufen, gehe Kaffee trinken, gehe aufs Klo. Jetzt habe ich mir eine Routine auferlegt. Ich stehe zusammen mit Adriana auf, und während sie duscht, mache ich ihr Frühstück. Dann checkt sie kurz ihre E-Mails, und ich wasche das Geschirr vom Vortag ab. Wir unterhalten uns wenig, denn Adriana ist morgens sehr konzentriert, tastet in Gedanken schon den Tag nach Unebenheiten ab. Mir ist das recht, ich möchte sie nicht stören. Im Gegenteil, ich mag ihren Gesichtsausdruck. Entschlossenheit, die sich langsam aus den weichen Konturen einer vergehenden Schläfrigkeit herausschält. Dann verlässt sie die Wohnung, und ich höre, wie sie das Auto aus der Garage fährt, und dann ist es still. Meistens schlafe ich noch ein, zwei Stunden. Oder ich lese. Zur Zeit Somerset Maugham, von dem Adriana behauptet, er sei ihr zu verschachtelt, zu altmodisch.
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